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THEURER/SITTA-Gastbeitrag: Lehren aus dem Fall Tönnies
Die stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzenden Michael Theurer und Frank Sitta schrieben für die „Welt“ (Freitagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
In der letzten weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wurden die Probleme durch Anhäufung wirtschaftlicher Macht überdeutlich: Banken und Versicherungen wurden so groß, dass sie als „systemrelevant“ galten, als „too big to fail“. Interessanterweise liegt die Ursache für die Konzentrationsprozesse häufig bei gut gemeinten staatlichen Regulierungen. Die Auflagen in der Finanzbranche sind mittlerweile so komplex, dass sie kleine und mittlere Finanzinstitute kaum mehr bewältigen können.
Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch auf dem Fleischmarkt. Über viele Jahre ist das Regulierungsniveau für die Tierhaltung und -schlachtung gestiegen. So mussten infolge der Schlachtzulassungsverordnung von 2010 viele Betriebe sechsstellige Beträge investieren, um EU-Vorgaben zu erfüllen. 2017 kam das Verpackungsgesetz hinzu, wonach Plastikfolien für Präsentkörbe bei einer zentralen Stelle zu melden sind. Lückenlose Aufzeichnungspflichten erforderten bei den meisten Unternehmen komplett neue Computer- und Registriersysteme. Kostenpunkt für eine Fleischerei mit zwei Filialen: 50.000 Euro. Einzeln und isoliert mag jede Auflage sinnvoll sein, insgesamt führte dies jedoch dazu, dass der Mittelstand durch die raschen Veränderungen erdrückt wurde. Heute teilen sich nur vier große Schlachtbetriebe knapp zwei Drittel des gesamten Marktes.
Die gleichen Fehlanreize mit der gleichen organisierten Verantwortungslosigkeit wie in der Finanzbranche sehen wir nun in der Fleischwirtschaft. Durch die Krise entstandene Regelungslücken wurden ausgenutzt, und in Kombination mit fehlender behördlicher Kontrolle resultiert so ein auf Kante genähtes Geschäftsmodell, das für externe Schocks höchst anfällig ist. Dabei sind die miserablen Arbeitsbedingungen und Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz in Teilen der deutschen Fleischbranche schon länger bekannt. Nicht selten leben die Beschäftigten in überbelegten Wohnungen, für die sie dann noch hohe Mieten zahlen müssen. Aber wie können die Bedingungen in der Fleischbranche nachhaltig verbessert werden?
Erstens muss der Einsatz von Scheinwerkverträgen konsequent kontrolliert und sanktioniert werden. Sind die per Werkvertrag Beschäftigten in die Organisation des Fleischbetriebs eingegliedert, ist dies schon heute illegal. Die digitale Zeiterfassung ist zudem unverzichtbar. Zweitens müssen die Unterkünfte der Beschäftigten menschenwürdige Standards erfüllen und die Vermieter für Hygienestandards sowie vernünftige Belegung der Wohnräume sorgen. Beim Unterlaufen des Mindestlohns durch Mietwucher sind deutlich höhere Strafen geboten. Drittens müssen die Behörden mit mehr Personal, gerade für unangekündigte Vor-Ort-Kontrollen ausgestattet werden, um Missstände konsequent ahnden zu können. Die Kontrollen müssen zudem auf allen Ebenen besser miteinander verzahnt werden. Viertens ist staatliche Regulierung kein Selbstzweck, sondern muss mit Augenmaß erfolgen. Denn oftmals können Initiativen aus der Branche heraus, etwa verbindliche Tarifabsprachen, schneller und zielgerichteter erfolgen als starre und somit schnell überholte Auflagen durch den Staat.
Gerade der Fall Tönnies und dessen kaltschnäuziges Handeln machen wütend. Doch die gesamte Fleischwirtschaft steht vor Umgestaltungen: Start-ups setzen heutzutage auf Weideschlachtung, regionale Erzeugung und brauchen entsprechend regulatorischen Freiraum. Wir wollen daher fairen Wettbewerb um die besten Produktionsbedingungen. Es darf kein „too big to fail“ mehr geben.