DÜRR-Gastbeitrag: Europa muss radikal umdenken
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr schrieb für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Donnerstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Vor kurzem unterhielt ich mich mit einem Autohändler aus Niedersachsen. Er erzählte mir, dass manche Hersteller ihre neuesten Benziner nicht mehr in Deutschland verkaufen würden. Dabei sei die Nachfrage nach Verbrenner-Autos so hoch wie lange nicht mehr. Tatsächlich setzen viele Autobauer lieber auf den außereuropäischen Markt. Der Grund dafür sind die Flottengrenzwerte. Wenn zu viele Autos verkauft werden, die die europäischen Klimavorgaben vermeintlich reißen, drohen saftige Strafen. Das muss man sich vor Augen führen: Unsere wichtigste Industrie will ihre besten Produkte im eigenen Land nicht mehr anbieten, weil sie Strafen fürchtet. Das mag absurd klingen, ist aber leider Realität in der EU. Und das ist erst der Anfang: Die Emissionsgrenzwerte werden künftig ohne Rücksicht auf die Entwicklung des Markts immer strenger. Die Autobauer rechnen bereits im neuen Jahr mit milliardenschweren Strafzahlungen für den Verkauf von Verbrennern, die die Flottengrenzwerte reißen. Und das, obwohl der Verkehrssektor in Kürze Teil des Emissionshandels wird, was jede andere Regulierung überflüssig macht. Sprich: Die ganzen Regeln belasten die Unternehmen, sparen aber nicht ein Gramm CO2 ein.
Nach Volkswagen haben in den letzten Wochen weitere Hersteller und Zulieferer angekündigt, Stellen zu streichen – und ich fürchte, dass es dabei nicht bleiben wird. Millionen von Arbeitsplätzen in Europa stehen auf dem Spiel. Die dürftigen Vorschläge der noch amtierenden Bundesregierung, die Strafzahlungen für ein Jahr auszusetzen, weil die Hersteller die Quoten in späteren Jahren übererfüllen könnten, zeugen von Hilflosigkeit. Denn in Wahrheit ist allen klar, dass die bürokratischen Flottengrenzwerte auch später nicht einzuhalten sind.
Die Krise der Automobilindustrie steht sinnbildlich für die wirtschaftsfeindliche Politik, die die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen vorantreibt. Seit ihrem Amtsantritt hat sich die Brüsseler Regulierungsmaschinerie stark beschleunigt: Die EU hat in den letzten fünf Jahren rund 13.000 Rechtsakte erlassen – im selben Zeitraum waren es in den USA etwa 3.500. Laut dem Nationalen Normenkontrollrat kamen im Berichtszeitraum 2022/23 sage und schreibe 87 Prozent der Belastungen für die deutsche Wirtschaft aus Brüssel. Und da sind die direkt anwendbaren EU-Verordnungen noch gar nicht enthalten. Allein die zehn wichtigsten neuen Gesetze haben in diesem Zeitraum nach Angaben der EU-Kommission 27 Milliarden Euro an Bürokratiekosten für die europäische Wirtschaft verursacht. Rückmeldungen aus der Praxis zeigen allerdings, dass die tatsächlichen Kosten höher sein dürften, als an den Brüsseler Schreibtischen errechnet.
Die Auswirkungen dieses planwirtschaftlichen Ansatzes auf die europäische Wirtschaft werden immer sichtbarer. Immer mehr Unternehmen vergeuden ihre Zeit mit Bürokratie. Ich will die Absurdität der Regulierungen anhand zweier Gesetze verdeutlichen.
Erstens: die Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie. Damit fragt die EU demnächst von den allein in Deutschland 15.000 betroffenen Unternehmen exakt 1.052 Datenpunkte zur Nachhaltigkeit der unternehmerischen Tätigkeit ab. Eine solche Datenflut würde selbst die ambitionierteste Plankommission einer Zentralverwaltungswirtschaft überfordern. Die vielen Experten, die für die Erstellung solcher Berichte bezahlt werden, könnten stattdessen den Fachkräftemangel an anderen Stellen spürbar lindern.
Zweitens: Die neue Gebäudeenergieeffizienzrichtlinie schreibt den Mitgliedstaaten vor, bis wann welche Gebäude energetisch zu sanieren sind und dass ab 2030 nur noch Null-Emissionsgebäude erbaut werden dürfen, obwohl parallel der Emissionshandel auf den Gebäudesektor ausgeweitet wird – gleiches Prinzip wie bei der Flottenregulierung. Damit schafft die EU-Kommission ein zweites Instrument für denselben Zweck, eine klimapolitisch sinnfreie, aber teure Doppelregulierung.
Die Liste ließe sich endlos fortführen. Die Lieferketten-Richtlinie, die Ökodesign-Verordnung, die Taxonomie: Egal in welchem Bereich, unter CDU-Politikerin von der Leyen wird immer mehr reguliert. Vorschriften anstelle von Unternehmergeist werden uns aber weder bei unserer Wettbewerbsfähigkeit noch beim Klimaschutz an die Spitze führen. Denn während ein Betrieb mit Dokumentationspflichten beschäftigt ist, wird keine Wertschöpfung betrieben. So darf es nicht weitergehen.
Die nächsten Monate werden im Zeichen einer wirtschaftspolitischen Richtungsentscheidung für Deutschland stehen. Dabei dürfen wir aber nicht aus dem Blick verlieren, dass dafür auch die europäische Politik von zentraler Bedeutung ist. Als größte Volkswirtschaft der EU spielt Deutschland eine entscheidende Rolle. Die nächste Bundesregierung wird sich daher auch daran messen lassen müssen, ob es ihr gelingt, einen Kurswechsel in Europa einzuleiten.
Es braucht eine grundlegend neue Herangehensweise in der europäischen Wirtschaftspolitik, weg von Regulierung und hin zu mehr Freiräumen. Es braucht ein radikales Umdenken, wenn wir verhindern wollen, dass sich Unternehmen abwenden. Die EU wurde geschaffen, um für Wettbewerb, Wachstum und Wohlstand zu sorgen. Wenn die Regulatorik ihrer Institutionen aber dazu führt, dass unsere Industrie Schaden nimmt, dann widerspricht das der europäischen Idee. Nicht nur Berlin muss eine Wirtschaftswende vollziehen – sondern auch Brüssel.