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LAMBSDORFF-Interview: Aufarbeitung der NS-Gräuel nur teilweise gelungen
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff gab der „Passauer Neuen Presse“ (Dienstagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Andreas Herholz:
Frage: Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren und an die Opfer des Holocaust – wie lässt sich die Erinnerung weiterhin wachhalten?
Lambsdorff: Wir müssen neue Wege finden, denn die letzten Opfer der Shoa verlassen uns in diesen Jahren. Gespräche mit Zeitzeugen kann es bald nicht mehr geben. Aber auch wer mit Kindern von Überlebenden spricht, versteht ganz schnell, dass es sich bei den Opfern nicht um eine anonyme Masse handelt, sondern um sechs Millionen Menschen mit Familien, deren Leben von den Nationalsozialisten brutal zerstört wurde. Das kann man an die heutige Generation weitergeben. Filme sind wichtig, Miniserien, Bücher. Auch Gedenktage wie der heutige Holocaust-Gedenktag wirken der Gefahr des Vergessens entgegen.
Frage: Bundespräsident Steinmeier hat vor der Rückkehr der bösen Geister in neuem Gewand gewarnt. Wie ernst ist die Bedrohung?
Lambsdorff: Wenn sich 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer Antisemitismus in Deutschland zeigt, er sich sogar ausbreitet, ist die Aufarbeitung der NS-Gräuel nur teilweise gelungen. Das um ein Haar verhinderte Blutbad in der Synagoge von Halle hat nicht nur gezeigt, dass wir ein Antisemitismusproblem haben, sondern auch, dass manche Antisemiten gewaltbereit sind. Laut Kriminalstatistik gab es 2018 fast 1800 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, also fünf Straftaten an jedem einzelnen Tag des Jahres. Das sind alarmierende Zahlen.
Frage: Rechtsextremismus und Antisemitismus sind in Deutschland wieder auf dem Vormarsch. Wo bleibt eine entschlossene Reaktion von Politik und Gesellschaft?
Lambsdorff: Es ist gut, dass Sie nach Politik und Gesellschaft fragen. Die Politik tut viel, aber ohne Rückhalt in der Gesellschaft werden politische Maßnahmen ins Leere laufen. Der Bundespräsident hat gerade eine mutige Rede in Israel gehalten. Es gibt einen Antisemitismusbeauftragten im Bund. Das ist gut, aber das reicht nicht. Jede und jeder Einzelne kann etwas tun, zum Beispiel nachhaken oder widersprechen, wenn im Freundes- oder Kollegenkreis antisemitische Äußerungen kommen.
Frage: Welchen Anteil hat die AfD am wachsenden Judenhass?
Lambsdorff: Wenn der AfD-Vorsitzende Gauland die Shoa als einen „Fliegenschiss“ der Geschichte bezeichnet oder Herr Hocke die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin kritisiert, kann es keinen Zweifel geben, dass es sich um eine im Kern antisemitische Partei handelt. Aber Antisemitismus gibt es auch in linken Kreisen, wenn Israel zum Sündenbock für alle Übel der internationalen Politik gemacht wird, und unter muslimischen Einwanderern, die aus Ländern kommen, in denen israel- und judenfeindliche Propaganda Teil der Schulbildung ist.
Frage: Sollten Schüler zum Besuch einer KZ-Gedenkstätte verpflichtet werden?
Lambsdorff: Ich halte das für sinnvoll, um die Erinnerung an damals wach zu halten und Verantwortung für heute zu übernehmen. In Israel gehört es längst zum Standardprogramm, dass jede Schulklasse das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau besucht. Gedenkstätten wie Yad Vashem haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Schicksal jedes einzelnen Holocaust-Opfers zu rekonstruieren. In einer Zeit, in der es kaum noch Überlebende der Shoa gibt, wird das immer wichtiger werden.
Frage: Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, kritisiert die Justiz wegen eines zu nachlässigen Umgangs mit antisemitischen Taten und fordert härtere Strafen. Sehen Sie hier Handlungsbedarf?
Lambsdorff: Antisemitismus ist kein Kavaliersdelikt. Deshalb muss jede Form des Antisemitismus, verdeckt oder offen, konsequent strafrechtlich verfolgt werden. Härtere Strafen alleine werden aber nichts nützen. Die Arbeit fängt früher an. Um Antisemitismus vorzubeugen, ist jeder Einzelne gefragt, sich Judenfeindlichkeit mutig entgegenzustellen.