KUBICKI-Gastbeitrag: Die Stunde des Parlaments
Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki schrieb für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Montagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Alle Gewalten im Staat unterliegen dem gleichen Recht und Gesetz. Und nur wenn alle ihre Aufgaben gleichermaßen wahrnehmen, funktioniert das System der gegenseitigen Kontrolle und Begrenzung, das unseren Rechtsstaat überhaupt erst vollständig macht. Darum ist es irritierend, dass sich weite Teile der deutschen Politik und Öffentlichkeit nicht nur mit dem Gedanken an eine fortdauernde „Stunde der Exekutive“ angefreundet, sondern sich regelrecht darin eingerichtet haben.
Dabei zeigt sich immer mehr, dass die Exekutive bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie den Bogen des Zulässigen und Verhältnismäßigen an vielen Stellen überspannt hat. Denn nicht nur die Regierungen sind in den vergangenen Monaten gefordert, sondern verstärkt auch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte. Eine Auswertung der bereits ergangenen Entscheidungen der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen ergibt einen beachtlichen Befund: In mindestens 49 Fällen bescheinigten die Richter den Antragstellern, dass sie sich zumindest teilweise berechtigt gegen exekutives Handeln zur Wehr gesetzt haben. In über 30 Fällen wandten sich Bürger erfolgreich gegen einzelne Normen der verschiedenen Corona-Bekämpfungsverordnungen. Alle Verfahren vor den Oberverwaltungsgerichten fanden wohlgemerkt im Rahmen von Verfahren des Eilrechtsschutzes statt. Viele der im Eilverfahren abgelehnten Anträge sind im Hauptsacheverfahren ausdrücklich offen. In mindestens einem Dutzend Entscheidungen der Oberverwaltungs- und Verfassungsgerichte erstritten sich Menschen das Recht zu demonstrieren, obwohl die Behörden es zunächst untersagt hatten.
Diese Zahlen sind ein Beleg für die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates. Regierungen können eben gerade nicht machen, was sie wollen, sondern werden kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert. Aber die schiere Menge an Entscheidungen, in denen die Exekutive in den vergangenen Monaten in die Schranken gewiesen werden musste, ist bedrückend. Insbesondere dann, wenn man die Zahlen in Relation zu der nicht stattfindenden öffentlichen und vor allem parlamentarischen Auseinandersetzung über die Einzelmaßnahmen setzt. Wenn die eine Gewalt die andere so oft korrigieren muss, ist das ein Warnsignal und ein deutlicher Auftrag an alle Demokraten. Es wird Zeit, dass die maßgeblichen Entscheidungen wieder dort diskutiert und ausgehandelt werden, wo sie hingehören: in den Parlamenten!
Auf die „Stunde der Exekutive“ kann eben nicht allein die „Stunde der Gerichte“ folgen, sondern wir müssen wieder einen Zustand erreichen, in dem alle wesentlichen Entscheidungen im Parlament verhandelt und entschieden werden. Nichts anderes schrieb das Landesverfassungsgericht des Saarlandes den Beteiligten Ende August ins Stammbuch, als es die Regelungen zur Kontaktnachverfolgung kippte und erinnerte: Der Gesetzgeber hat „in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“ und darf sie eben nicht der Exekutive überlassen. Solch eine einschneidende Politik allein im Verordnungswege zu bestimmen, steht einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft genauso wenig gut zu Gesicht wie das vielfache, unberechtigte Aussprechen von Versammlungsverboten.
Je länger wir die öffentliche und parlamentarische Auseinandersetzung über die Corona-Politik meiden, je zögerlicher wir uns aus dem unnatürlichen Zustand des „Durchregierens“ der Exekutive verabschieden, desto gefährlicher wird dies für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist zwar richtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Corona-Politik der vergangenen Monate im Großen und Ganzen stützt. Gleichzeitig wird aber die Kluft zu denen, die sie nicht tragen, immer größer. Bei exekutiver Normsetzung ist kein Raum für das Aushandeln des richtigen Weges. Es gibt scheinbar nur richtig oder falsch. Für Zwischentöne, insbesondere kritische Zwischentöne, scheint nur noch Raum vor Gericht, wie die vielen differenzierten und durchaus ausgewogenen Entscheidungen zeigen.
Wir dürfen nicht vergessen: Für viele Menschen in unserem Land folgen aus den Corona-Maßnahmen nach wie vor ganz konkrete existentielle Sorgen. Sie haben ein Recht darauf, dass die Maßnahmen, die für die meisten zu Lebzeiten ohne Beispiel sind, öffentlich erstritten und erwirkt werden. All diese Menschen auf den Rechtsweg zu verweisen, wäre zynisch und gefährlich. Statt zum Gericht geht nämlich manch einer Populisten oder Verschwörungstheoretikern auf den Leim, weil sie sie scheinbar als Einzige in ihrem Eindruck bestätigen, die Verhältnismäßigkeit mancher Maßnahmen sei nicht mehr gegeben. Ihnen durch eine kontroverse und lebendige Debatte das Gegenteil zu beweisen, ist unsere große Verantwortung und Pflicht. Überlassen wir es nicht allein den Gerichten, denn bis die gerichtliche Aufklärung der Corona-Pandemie abgeschlossen ist, haben wir vielleicht schon zu viele Menschen für unser demokratisches Gemeinwesen verloren. Die „Stunde der Exekutive“ darf keine Sekunde länger dauern als nötig.