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LAMBSDORFF-Interview: Boris Johnson hat sich auf Europa zubewegt
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff gab dem „ARD-Morgenmagazin“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Marion von Haaren:
Frage: Wo stehen wir denn jetzt genau im Verhandlungsmarathon? Mehrere Kilometer vorher oder nur noch ein paar hundert Meter vorher?
Lambsdorff: Das ist jetzt wirklich sozusagen ein paar hundert Meter vorher. Allerdings anders als beim Marathon wird bei Verhandlungen, wie wir es gerade im Beitrag gehört haben, das Ziel gerne mal immer noch ein paar Meter nach hinten geschoben, so dass man nicht genau weiß, wann man die Ziellinie wirklich überquert.
Frage: Mehrwertsteuerstreit, was verbirgt sich dahinter?
Lambsdorff: Dahinter verbirgt sich, dass wir versuchen, die Quadratur des Kreises hinzukriegen. Nordirland soll gleichzeitig zur Europäischen Union als Zollgebiet gehören, aber natürlich auch zu Großbritannien, wo es ja staatlich dazugehört. Und wenn man da unterschiedliche Sätze hat, aber keine Grenzkontrolle, dann ist die Angst groß, dass eben Produkte über die Grenze geschmuggelt werden und mit unterschiedlichen Sätzen dann sich Geschäftsleute Vorteile verschaffen. Man kann sich das ganz gut an einem Kühlschrank mal vorstellen. Man hat zwei Kühlschränke, der eine wird in Belfast verkauft, vielleicht ein Mehrwertsteuersatz von 10, der andere in Dublin, Mehrwertsteuersatz von 15 Prozent. Wenn der aus Belfast nach Dublin geschmuggelt wird, kann man da einen Profit machen und darum geht es jetzt gerade, das noch rauszukriegen.
Frage: Dann erklären Sie uns doch bitte auch, weil Sie das gerade so schön machen: Die Zollgrenze in die Irische See verlegen, wie soll das gehen?
Lambsdorff: Ja, das ist eine ganz große Bewegung der Engländer. Das muss man mal sagen. Boris Johnson hat sich, wie Theresa May früher schon, auf Europa zubewegt. Bei Theresa May haben ihre Leute gesagt: Das geht gar nicht, Johnson hat auch gesagt: Das geht gar nicht. Jetzt macht er es selber. Gut ist das, weil indem wir keine Zollkontrollen auf der irischen Insel haben, gibt es auch keinen Ärger zwischen Katholiken und Protestanten. Die älteren Zuschauerinnen und Zuschauer werden sich vielleicht noch dran erinnern: In den siebziger, achtziger Jahren gab es ja einen Bürgerkrieg in Irland mit 3000 Toten. Da will niemand wieder hin. Und deswegen will man versuchen, die Grenzkontrollen eben an den Häfen in Großbritannien, also auf der anderen Seite der irischen See, zu machen. Wenn das gelänge, das wäre dann wirklich ein Riesenfortschritt.
Frage: Das war jetzt das Thema Mehrwertsteuer und Zollgrenze. Gibt es darüber hinaus noch Knackpunkte bei diesen Verhandlungen, die in letzter Minute wieder alles platzen lassen könnten?
Lambsdorff: Also, in den Verhandlungen selber, im Text, um den es da geht, eigentlich nicht. Der große Knackpunkt wird danach politisch sein, weil das Abkommen muss ja wieder durch die Parlamente. Durchs Europäische Parlament, da erwarte ich keine großen Schwierigkeiten, aber durchs britische Unterhaus. Und wie die sich verhalten, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber die haben uns in letzter Zeit so oft überrascht …
Frage: … sie irrlichtern.
Lambsdorff: Sie irrlichtern ein bisschen. Man weiß deswegen nicht, ob Boris Johnson eine Mehrheit im Unterhaus bekommt. Das ist das große Fragezeichen, das nach wie vor über diesen Verhandlungen schwebt.
Frage: Sie sagen, das Europäische Parlament, da sehen Sie keine Gefahr, dass die nicht zustimmen könnten. Aber dieser Vertrag müsste ja auch von allen Parlamenten der EU-Mitglieder noch mal abgestimmt werden. Könnte es da noch Probleme geben?
Lambsdorff: Also, ich sehe im Moment, wenn ich mich so ein bisschen umschaue, an der Stelle eigentlich kein großes Hindernis. Ich glaube, das wirkliche Problem oder die wirkliche Chance, vielleicht jetzt mal eine Zustimmung hinzukriegen, die ist in London, die ist in Westminster zum ersten Mal seit 1982, seit dem Falkland-Krieg, gibt es eine Sondersitzung des Unterhauses an einem Samstag, nach dem Gipfel. Und da wird Johnson mit seinen Verhandlungsergebnissen ins Unterhaus kommen. Dann wissen wir mehr.