Dr. Marco Buschmann
Pressemitteilung

BUSCHMANN-Gastbeitrag: Droht eine Verfassungskrise?

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für „FAZ Einspruch“ den folgenden Gastbeitrag:

Die Regierungschefs von Bund und Ländern haben abermals einen sogenannten Lockdown verabredet. Viele sprechen auch von Lockdown 2 oder Lockdown light, weil es der zweite im Rahmen der Corona-Krise ist. Er bedeutet massenhafte Grundrechtseingriffe von hoher Intensität. Die Umsetzung der politischen Verabredungen in geltendes Recht stellt die Verfassungsordnung auf eine harte Probe. Sie fällt noch härter aus als im Frühjahr dieses Jahres. Denn je länger die Gefahr durch Corona andauert und je mehr wir über das Virus und seine Bekämpfung wissen, desto größer ist der rechtliche Druck, in reguläre Verfahren zurückzukehren. Widersetzen sich die Regierungschefs dem dauerhaft, so droht eine manifeste Verfassungskrise. Die Lösung liegt auf der Hand: klare Regelungen durch konkretisierte Parlamentsgesetze.

Die zentrale Herausforderung an den Verfassungsstaat des Grundgesetzes besteht darin, die Pandemie so zu bekämpfen, dass dies dem Vorbehalt des Gesetzes gerecht wird. Das bedeutet, dass belastende Hoheitsakte nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgen dürfen. Grundrechtseingriffe müssen ihre Rechtfertigung stets auf ein Parlamentsgesetz zurückführen.

Der Parlamentsvorbehalt ist weit mehr als bloße Förmelei. Er erfüllt zwei Ziele. Erstens dient er normativ der demokratischen Legitimation. Denn nur die Volksvertreter sind aus allgemeinen, freien und gleichen Wahlen hervorgegangen. Die demokratische Legitimation der Bundesregierung ist mittelbarer. Sie beruht allein auf der Wahl der Bundeskanzlerin im Parlament. Zweitens ist die Teilung von Exekutiv- und Legislativgewalt auch institutionell geronnene und empirisch überprüfbare Klugheit: Die Organisationssoziologie zeigt, dass kleine und homogene Gruppen wie etwa eine Gruppe von 17 Regierungschefs unter Zeit- und Entscheidungsdruck zu schnellen und konformistischen Entscheidungen neigen. Das macht die Entscheidungen im Regelfall qualitativ nicht besser. Das Parlament ist deutlich größer, diverser und schon aufgrund des Parteienwettbewerbs pluralistischer zusammengesetzt. Es erzeugt automatisch den Dissens der denkbaren Alternativen, der die notwendige Bedingung für einen dauerhaft tragfähigen Konsens ist. Damit dieser Mechanismus funktioniert, hat das Parlament nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, alle wesentlichen Fragen selbst zu entscheiden, soweit es um die Verwirklichung und damit auch die Begrenzung der Grundrechte geht. Das ist der Kerngedanke des sogenannten Wesentlichkeitsvorbehalts, den das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat.

Der Wesentlichkeitsvorbehalt führt zu Mindestanforderungen an die Bestimmtheit. Das gilt verfassungsunmittelbar insbesondere dann, wenn das Parlamentsgesetz der Exekutive erlaubt, auf der Basis von Rechtsverordnungen zu handeln. Denn nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß dieser Rechtsverordnungen bereits im Parlamentsgesetz selbst normiert sein. Was die Exekutive auf der Basis des Parlamentsgesetzes an grundrechtlich relevantem Handeln vollziehen darf, muss also einen Mindestgrad an Konkretisierung erfahren.

Notstandsartige Krisenbewältigung angesichts einer bislang unbekannten Gefahr steht dazu in einem offenkundigen Spannungsverhältnis. Das Corona-Virus breitet sich schnell aus. Es birgt die Gefahr einer Überforderung des öffentlichen Gesundheitssystems. Über seine Übertragungswege war im Frühjahr dieses Jahres noch wenig bekannt. Daher bestand auch noch große Unsicherheit darüber, welche Maßnahmen welchen Nutzen bei der Eindämmung der Ausbreitung versprechen. In einer solchen Lage ist zwar klar, was der Zweck der Seuchenabwehrmaßnahmen ist: nämlich der Schutz des öffentlichen Gesundheitssystems vor Überlastung. Welche konkreten Maßnahmen dafür erforderlich sind, war aber allenfalls in groben Umrissen bekannt.

In einer solchen Lage großer Gefahr und großer Wissensdefizite sind die Anforderungen der Verfassung großzügiger. Sie ist sich des schwierigen Spannungsfeldes bewusst. Die Ermächtigungsgrundlagen können daher tendenziell pauschaler, allgemeiner und abstrakter formuliert sein. Aber selbst im Angesicht dessen gingen die Maßnahmen der deutschen Regierungen und die Verordnungen, die sie erlassen haben, an die Grenze des rechtlich noch gerade so zulässigen. Nach Ansicht einer ganzen Reihe von Staatsrechtlern gingen sie sogar schon im Frühjahr darüber hinaus.

Mittlerweile sind die Anforderungen der Verfassung strenger geworden. Denn der politische Instrumentenkoffer der Bekämpfung von Corona hat sich in der Praxis geklärt: Maskenpflicht, Abstandsgebote, Kontaktbeschränkungen, Schließungsanordnungen für bestimmte Branchen und öffentliche Einrichtungen regional oder bundesweit. Inhalt und Ausmaß der zur Verfügung stehenden Instrumente sind also bekannt. Also müssen auch die Ermächtigungsgrundlagen durch Parlamentsgesetz nach Inhalt und Ausmaß konkretisiert werden. Ignoriert der Gesetzgeber diese Konkretisierungspflicht, so droht jedenfalls im grundrechtsrelevanten Bereich das Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Besteht wiederum die Exekutive systematisch auf der Durchsetzung von Grundrechtseingriffen auf der Basis viel zu unbestimmter Ermächtigungsgrundlagen, so droht der systematische Verfassungsbruch.

Die Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen durch Parlamentsgesetzt leistet aber noch mehr. Der parlamentarische Prozess sammelt aufgrund seiner Öffentlichkeit und der pluralistischen Zusammensetzung des Parlaments das in der Gesellschaft verstreute Wissen ein. Die Konkretisierung des Eingriffstatbestandes schafft Erwartungssicherheit. Die Bürger wissen, wann sie mit bestimmten Maßnahmen rechnen müssen. Wird im Tatbestand beispielsweise ein bestimmtes Infektionsgeschehen als Voraussetzung beschrieben, und lässt sich dieses anhand öffentlich bekannter Informationen feststellen, so können sich die Betroffenen rechtzeitig vorbereiten.

Die Konkretisierung von Tatbestand und Rechtsfolge erzwingt auch eine ausführlichere Darlegung der Verhältnismäßigkeit jenseits der Begründung: nämlich schon durch die Gestaltung des Gesetzes selbst. Sollen etwa einerseits regional begrenzte und andererseits bundesweite Schließungen von Unternehmen und Einrichtungen vorgesehen werden, so hat der Gesetzgeber auf der Tatbestandsseite der Norm zu klären, bei welchem Infektionsgeschehen er das erstere für geboten, aber auch für ausreichend hält, und in welchen Fällen ihm das letztere als als ultima ratio als zwingend erscheint.

Eine Konkretisierung müsste angesichts der Sonderopfer der Betroffenen auch eine klare Entschädigungsregel treffen, um dem Gebot der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen. Die großzügigen Entschädigungen, die die deutschen Regierungschefs nun für den November 2020 verabredet haben, basieren auf einer Art von „Ausgabenresten“. Eine solche Entschädigung „nach Kassenlage“ kann aber keine verlässliche Basis für die Zumutbarkeit schwerwiegender Grundrechtseingriffe sein. Ein gesetzlicher Entschädigungsanspruch würde hier für Erwartungssicherheit bei den Betroffenen sorgen.

Es ist mithin ein schwerer Fehler der Verabredung der Regierungschefs, dass sie zwar einig waren, massiv in Grundrechte einzugreifen, aber nicht einmal angedeutet haben, wie sie sich dafür die verfassungsrechtlich sicheren Grundlagen beschaffen wollen. Die Parlamente müssen die Suppe nun auslöffeln und handeln. Der Bundestag muss also schleunigst konkretisierte Rechtgrundlagen zur Bekämpfung von Corona im Infektionsschutzgesetz schaffen. Das heißt, dass insbesondere die mehrheitsbildenden Fraktionen den Weg für Gesetzgebungsprozesse freimachen müssen. Die pauschalen Vollmachten an die Exekutive im Rahmen der sogenannten epidemischen Lage nationaler Tragweite sollten zügig in reguläres Parlamentsrecht überführt werden. Die Landesparlamente sollten von ihrem Recht nach Artikel 80 Absatz 4 des Grundgesetzes Gebrauch machen, um die landesrechtlichen Verordnungen, die auf pauschalen Verordnungsermächtigungen des Bundes beruhen, durch landesrechtliche Parlamentsgesetze zu ersetzen.

Sollte das nicht erfolgen, so droht eine Verfassungskrise. Denn der Verfassungsstaat schuldet seinen Bürgern Erfolg. Angesichts einer drohenden Gefahr muss er handeln können. Ansonsten gerät seine Akzeptanz in Gefahr. Sein Handeln muss aber auch nach dem Maßstab von Parlamentsgesetzen angemessen sein. Sonst gerät seine demokratische Legitimation in Gefahr. Handelt die erste Gewalt, weil sie muss, ohne dass sie es aufgrund einer Ermächtigung der zweiten Gewalt darf, so zwingt sie die dritte Gewalt, ein Stoppschild aufzustellen. Den gordischen Knoten können nur selbstbewusste Parlamente durchschlagen. Sie müssen nun konkrete und verhältnismäßige Gesetze schaffen, die klarstellen, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen welche grundrechtsrelevante Maßnahme der Seuchenabwehr in der Corona-Pandemie angemessen und dadurch zulässig sein soll. Darüber wird man trefflich streiten. Aber dieser Streit ist produktiv, und die Abwendung einer drohenden Verfassungskrise ist diesen produktiven Streit allemal wert.

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