BUSCHMANN-Gastbeitrag: Die Aufgabe der Liberalen ist es, Regeln zu hinterfragen
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für die „Welt“ (Dienstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Vor fünf Jahren gaben sich die Freien Demokraten erstmals ein Leitbild. Es war Symbol und Orientierungspunkt für einen beispiellosen Erneuerungsprozess. Er mündete in ein ebenso beispielloses Comeback: Erstmals gelang es 2017 einer Partei, die vollständig aus dem Bundestag ausgeschieden war, wieder dorthin zurückzukehren. Was aber bedeutend wichtiger war: Eine politische Stimme für Freiheitsrechte, Fortschritt und Marktwirtschaft kehrte auf die Bühne zurück. Fünf Jahre später liegt nun ein Update dieses Leitbildes vor.
Für Liberale sind Menschen kein Zahnrädchen einer Maschine. Sie sind nicht das Werkzeug eines geschichtlichen oder göttlichen Willens oder einer Vorsehung, die sich aus Nation oder Tradition ergibt. Die Würde des Menschen verlangt nach der Freiheit, sich eigene Ziele zu setzen und eigene Entscheidungen zu treffen, um diese Ziele – seien es Liebe, Freundschaft, Glück, Erfolg oder spirituelle Erfüllung – zu erreichen.
Das ist mehr als private Selbstverwirklichung. Mit der menschlichen Energie, die aus der Idee der Freiheit entspringt, gelingt es Gesellschaften, neue Chancen zu erkennen und zu ihrem Wohle zu nutzen. Daraus speist sich eine politische Mission: Mehr Chancen durch mehr Freiheit. Die Liebe zur Freiheit ist eine Energie, die unter der Bedingung fairer Regeln zu Fortschritt führt und mit gesellschaftlicher Verantwortung zum Wohle aller einhergeht. Der Mensch ist auch kein Robinson auf der einsamen Insel. Denn die Ziele der meisten Menschen sind gar nicht anders denkbar, als sie in sozialen Beziehungen zu anderen zu erleben: Partnerschaft, Familie, Freundschaft, Achtung vor und durch andere sowie Erfolg im Wettbewerb mit anderen. Doch der Mensch soll selber entscheiden, mit wem er eine Partnerschaft oder Familie begründet, welche Freunde er wählt, welchen Beruf er ergreift, um wessen Anerkennung er sich bemüht, mit wem er die wettbewerbliche Auseinandersetzung sucht, welcher Gottheit er sein Seelenheil anvertraut und ob er überhaupt die Existenz einer Gottheit in Betracht zieht.
Selbstbestimmung im Zusammenleben mit anderen ist daher ein zentrales politisches Ziel aller Liberalen. Dieses Menschenbild führt zu einer klaren Rolle des Staates: Nicht er weist dem Menschen seine Ziele zu. Vielmehr unterstützt der Staat den Menschen bei der Auswahl und Verwirklichung der Ziele, die sich jeder einzelne selbst wählt. Dazu leiten sich aus der Würde des Menschen konkretisierte Rechtspositionen ab, die Grundrechte heißen und alle staatliche Gewalt verpflichten. Dazu verteidigt der Staat die Rechte des Menschen gegen Zwang, der von anderen Menschen ausgeht. Das nennen wir Sicherheit. Wenn der Staat Sicherheit schafft, so wendet er dabei selbst so wenig Zwang wie möglich an. Das nennen wir Verhältnismäßigkeit. Sicherheit und Verhältnismäßigkeit im Dienste der Freiheit bilden die tragenden Säulen liberaler Rechtsstaatlichkeit.
Ein Sicherheitsdenken, das seine dienende Funktion für die Freiheit vergisst und die Grenzen der Verhältnismäßigkeit verletzt, führt sich selbst ad absurdum. Der Staat fördert das offene und unbefangene Denken über Ziele und wie man sie praktisch erreichen kann. In einer Welt des Wissens und seiner permanenten Erneuerung, sind daher Innovation, Wissenschaft und Bildung ein unverzichtbares „Empowerment“-Programm sowohl für jeden Einzelnen wie für die gesamte Gesellschaft. Der Staat achtet die Freiheit der Wissenschaft, der Presse und der Meinung, damit der selbstbestimmte Mensch, entscheidet, welcher Ansicht er folgt, und nicht „von oben“ gesteuert wird. Gerät der Mensch auf dem Weg an sein Ziel in Not, so sorgt der Staat dafür, dass er nicht ins Bodenlose fällt. Denn jede Form der Freiheit ist an die physische Existenz gebunden und benötigt daher eine materielle Grundlage. Schließlich setzt der Staat dort Regeln, wo die Umstände zu einem unzumutbaren Dilemma zwischen persönlicher Verantwortung und persönlichem Vorteil zum Schaden Dritter führen. Diese Grundsätze liefern ein zuverlässiges Navigationssystem für die richtigen Lösungen in schwierigen Fragen.
Die Corona-Pandemie stellt Menschen mitunter vor das Dilemma zwischen dem eigenen wirtschaftlichen Ruin und der Gefährdung anderer Menschen zu wählen. In einem solchen unerträglichen Dilemma ist es richtig, dass der Staat neue Regeln setzt. Die Aufgabe der Liberalen ist es, nach der Begründung dieser Regeln zu fragen, um eine öffentliche Debatte darüber zu ermöglichen. Das Ziel dieser Debatte ist nicht die Leugnung der dilemmatischen Situation. Das Ziel der Debatte ist die Suche nach verhältnismäßigen Lösungen, um dieses Dilemma aufzulösen. Denn wenn es Wege gibt, die einen sicheren Umgang von Menschen miteinander möglich machen und die die Rechte der betroffenen Menschen weniger beschneiden, dann ist der Staat verpflichtet, diese milderen Mittel zu wählen. Darauf müssen Liberale drängen!
Diskriminierung ist das Gegenteil von Freiheit. Wenn Menschen ihre Ziele selbst wählen können sollen, dann darf ihre selbstbestimmte Entscheidung nicht in Abhängigkeit von Geschlecht, ethnischer Herkunft oder Religion durch andere blockiert werden. Liberale stehen daher per Definition für Gleichberechtigung und Toleranz. Hier liegt die eigentliche Wurzel des Leistungsprinzips: Es ist nicht der Sklaventreiber auf der Galeere, der die Effizienz des Menschen als Produktionsfaktor maximieren soll. Das Leistungsprinzip ist die Absage daran, dass der große Zufall der Geburt über den Weg im Leben entscheidet. Diskriminierung und Standesdenken dürfen Liberale niemals dulden!
Der Klimawandel versetzt uns in ein Gefangenendilemma. Wenn jeder nur an sich selbst denkt, dann wird die Lage für alle schlechter. Eine Begrenzung des CO2-Ausstoßes gemäß wissenschaftlicher Erkenntnis ist daher eine Pflichtaufgabe des Staates. So richtig ein solcher CO2-Deckel ist, so falsch wäre bürokratisches Mikromanagement des täglichen Lebens, solange es den CO2-Deckel nicht verletzt. Der beste Weg sind hier Märkte: Je mehr sich der CO2-Ausstoß dem Deckel nähert, desto mehr steigen die Preise dafür. Jeder kann dann selbst entscheiden, ob der weitere CO2-Ausstoß das Wert ist. Zugleich wird ein Innovationswettbewerb um CO2-ärmere Alternativen in Gang gesetzt, weil sie schlicht günstiger werden. Liberale sind Klimaschützer, aber sie nutzen dafür marktwirtschaftliche Methoden! Die internationale Ordnung zwischen Staaten muss auf Frieden, Freiheit und Verlässlichkeit fühlen. Daher strebt der Liberalismus an, die Prinzipien des Rechtsstaats so weit wie möglich auf die internationalen Beziehungen zu gehören.
Daher gehen Liberale den Weg des Völkerrechts und folgen nicht der Logik von Freund und Feind. Sie setzen auf die gleichen Einstellungen statt auf die Illusion des wohlwollenden Hegemon. Schon deshalb sind Liberale immer überzeugte Europäer und Verteidiger der Europäischen Union!