Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
VOGEL-Interview: Unser Land braucht eine Richtungsentscheidung
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Johannes Vogel gab dem "Handelsblatt" (Freitagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Josefine Fokuhl und Jan Hildebrand.
Frage: Herr Vogel, Sie gelten als einer der wenigen potenziellen Nachfolger von Christian Lindner. Haben Sie angesichts der D-Day-Krise für einen kurzen Moment überlegt, ob es an der Zeit wäre, nach dem Parteivorsitz zu greifen?
Vogel: Ich war am Wochenende in großer Sorge um meine Partei, nicht darum, was aus mir wird. Christian Lindner hat meine volle Unterstützung.
Frage: In der Partei des Wettbewerbs gibt es niemanden, der angesichts des Chaos der vergangenen drei Wochen sagt: Moment, das kann ich besser?
Vogel: Der Generalsekretär und der Bundesgeschäftsführer sind zurückgetreten. Das ist eine Konsequenz, die nötig war. Denn wir sind die Partei der Eigenverantwortung: Wenn etwas schiefläuft, dann muss man die Fehler bei sich selbst suchen, aufarbeiten und Konsequenzen ziehen.
Frage: Lindner ist seit elf Jahren FDP-Chef. Wäre es nicht in einer solchen Krise Zeit für eine Erneuerung?
Vogel: Sie können die Frage formulieren, wie Sie wollen, meine Antwort bleibt die gleiche: Ich unterstütze Christian Lindner als Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten. Die einzige liberale Partei muss jetzt als Team in gut elf Wochen bei einer Bundestagswahl stark werden. Dabei geht es nicht um die FDP, es geht um unser Land. Das ist entscheidend.
Frage: Lindner sagt, Deutschland müsse mehr Javier Milei und Elon Musk wagen. Muss die FDP radikaler werden, verrückter oder beides?
Vogel: Nichts von dem. Wir Liberale müssen für das eintreten, was dieses Land stark gemacht hat: Freiheitsrechte und soziale Marktwirtschaft. Wir müssen für Freiheit auch künftiger Generationen stehen, bei Staatsfinanzen, Klima und Rente. Und wir müssen die modernsten und mutigsten Ideen haben, wie wir das Land nach vorne bringen. Das wieder fühlbar zu machen, liegt in unserer Hand. Das ist unsere Rolle. Dann sind wir erfolgreich.
Frage: Die Frage zielte darauf, ob die FDP sich nun Milei und Musk zum Vorbild nehmen will?
Vogel: Die Debatte zeigt doch, dass wir als Gesellschaft wieder stärker die Fähigkeit zur Differenzierung brauchen. Derzeit wird mir viel zu schnell in Schubladen sortiert, gut, böse, links, rechts. Etwas mehr Ambiguitätstoleranz würde uns guttun. Ich finde den Unternehmer Elon Musk und seine Kraft hier neu zu denken, beeindruckend. Er hat Elektroautos wettbewerbsfähig und für viele attraktiv gemacht. Und sein Unternehmen kann nicht nur Raketen ins Weltall schießen, sondern sie sogar wieder unbeschädigt auf der Erde landen lassen. Auf der anderen Seite stößt mich politisch vieles an Musk ab, etwa seine andienende Unterstützung für Donald Trump.
Frage: Die FDP will aber keine E-Autos bauen oder Raketen ins All schießen. Wenn Lindner „mehr Musk und Milei wagen“ will, dann geht es doch um die Politik.
Vogel: Milei ist ein Libertärer. Das passt nicht in manche Links-Rechts-Schublade. Das führt zu Missverständnissen, daher hat er auch falsche Fans. Und ich kann mit einigen seiner Positionen überhaupt nichts anfangen, zum Beispiel mit dem Leugnen des menschengemachten Klimawandels. Aber als Liberaler sage ich: Sein Rezept von mehr Markt und weniger Staat hat Argentinien in die richtige Richtung entwickelt. Die Inflation ist von 25 auf zwei Prozent gesunken. Das Staatsdefizit ist wieder unter Kontrolle. Die Wirtschaft wächst.
Frage: Dafür leben viel mehr Menschen in Armut.
Vogel: Mittlerweile sinkt die Armutsquote, weil das Wirtschaftswachstum anspringt. Aber ich muss und will mich gar nicht über Milei definieren. Mich überzeugen weder der politische Stil noch der rhetorische Ansatz, geschweige denn alle Positionen.
Frage: Lindner sagt, ihn beeindrucke die „Kraft zur Disruption“. Braucht Deutschland angesichts der tiefsitzenden Probleme mehr Disruption?
Vogel: Ich finde, das Beispiel Milei zeigt doch vor allem eines: Ein Land muss sich frühzeitig reformieren. Die Probleme dürfen nicht so groß werden wie in Argentinien, dass solch radikale Lösungen notwendig werden. Das haben wir übrigens in Europa in der Staatsschuldenkrise auch erlebt. Und das gilt aus meiner Sicht auch für Deutschland: Wenn aus der politischen Mitte heraus nicht ausreichend große und weitreichende Lösungen für die realen Herausforderungen kommen, dann werden die Ränder stärker. Der Ansatz der FDP sollte sein: Statt Kettensägen rechtzeitig mehr Freiheit wagen.
Frage: Von argentinischen Zuständen ist Deutschland aber weit entfernt.
Vogel: Das stimmt. Richtig ist aber auch: Die wirtschaftliche Situation in Deutschland ist so schwierig, wie sie erst einmal in der Geschichte der Bundesrepublik war, nämlich Anfang der 2000er Jahre. Damals ist die Wirtschaft zwei Jahre hintereinander geschrumpft. Danach hat Deutschland es geschafft, mit mutigen Reformen aus der politischen Mitte heraus das Ruder herumzureißen.
Frage: Sie meinen die Agenda 2010. Also wollen Sie mehr Gerhard Schröder wagen statt mehr Milei?
Vogel: Ich kann auf all diese Referenzen verzichten, weil sie nie richtig passen. Was ich aber anerkenne: Endlich wird diskutiert, dass der überbordende Staat zum Problem für die Wettbewerbsfähigkeit und damit zum Problem für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes geworden ist. Der Staat verzettelt sich bei dem Falschen und funktioniert teils nicht bei den Kernaufgaben. Die zentrale Frage im Wahlkampf wird aus meiner Sicht: Schaffen wir es in diesem Land, das zweite Mal zu einem Agenda-Moment zu kommen? Wie beleben wir Leistungswille, Mut, Unternehmergeist, das Neue? Ich hätte mir gewünscht, dass die Ampelkoalition das schon geschafft hätte. Sie war dazu nicht in der Lage, weil die wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu weit auseinanderklafften. Jetzt muss dieser Agenda-Moment bei der Bundestagswahl durch die Bürgerinnen und Bürger ermöglicht werden.
Frage: Wenn das drängendste Problem die Wirtschaft ist, warum steht die FDP als Wirtschaftspartei dann bei drei bis vier Prozent?
Vogel: Wir waren Bestandteil einer Koalition, die den Herausforderungen nicht gerecht wurde. Daran ist die Koalition am Ende auch gescheitert. Ich lese oft, das Wirtschaftswende-Papier von Christian Lindner sei eine Provokation gewesen für unsere Koalitionspartner. Das Papier wurde von unterschiedlichsten Ökonomen und Wirtschaftsvertretern gelobt und als das Nötige fürs Land beschrieben. Wenn das Nötige fürs Land eine Provokation ist, dann ist es richtig, dass diese Koalition Geschichte ist.
Frage: Sie werden dem sozialliberalen Flügel der FDP zugerechnet. Fühlen Sie sich dort gut aufgehoben?
Vogel: Mit diesem Bindestrich-Liberalismus konnte ich noch nie etwas anfangen. Für andere bin ich der ultrakapitalistische Aktien-Nerd, wenn ich an die Aktienrente-Debatte denke. Ich halte es mit Ralf Dahrendorf: Der Liberalismus muss seinen Universalismus beweisen. Er ist ein Angebot für alle, die eine bestimmte Geisteshaltung teilen, nämlich Pilotin oder Pilot des eigenen Lebens sein zu wollen. Manche empfinden den weiten Horizont, der daraus entsteht, auch als Bedrohung, weil man selbst entscheiden muss. Es gibt aber sehr viel mehr Menschen da draußen, die die Freiheit eines weiten Horizonts als Verheißung begreifen.
Frage: Ganz so weit wirkt der Horizont der FDP nicht. Für viele steht sie dafür, die Schuldenbremse einzuhalten und Steuern zu senken.
Vogel: Das sind ja auch zwei wichtige Punkte, zumal wirtschaftliche Fragen gerade besonders drängend sind. Und zugleich haben wir etwa mit dem Startchancenprogramm, also die besten Schulen in die Stadtteile mit den größten sozialen Herausforderungen, eine Bildungsoffensive für unser Land gestartet.
Frage: Droht der FDP eine Richtungsdebatte im Wahlkampf?
Vogel: Nein, unser Land braucht eine Richtungsentscheidung. Wir wollen, dass die Menschen wieder stolz auf unser Land und seine Wirtschaftskraft sein können. Dahinter steht die ganze Partei mit voller Überzeugung. Mehr Freiheit wagen – das muss der Kern dessen sein, wofür die FDP steht.
Frage: Die langjährige FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat gewarnt, liberale Politik dürfe sich nicht auf eine Wirtschaftsagenda reduzieren lassen. Hat Sie Recht?
Vogel: Die FDP hat über die Wirtschaftspolitik hinaus eine Menge anzubieten. Mein Antrieb ist die Verbindung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Freiheit und ein Liberalismus, der das soziale Aufstiegsversprechen erneuert. Ich habe gerade einen neuen Vorschlag gemacht, wie wir dafür sorgen können, dass sich die Vermögensschere in diesem Land endlich schließt.
Frage: Sie fordern die Wiedereinführung der Vermögenssteuer?
Vogel: Das wäre der klassische linke Ansatz: Umverteilung. Eine Substanzbesteuerung halte ich für schädlich. Das ist kein liberaler Ansatz, weil er in das Eigentumsrecht eingreift, eines Fundaments des menschlichen Fortschritts.
Frage: Was ist Ihr Vorschlag?
Vogel: Ich möchte mehr Menschen, auch mit kleinen und mittleren Einkommen, die Möglichkeit geben, sich Vermögen aufzubauen. Neben Wohneigentum sind Aktien dafür entscheidend. Die vergleichsweise gering ausgeprägte Aktienkultur in Deutschland ist nachweislich eine Ursache dafür, dass bei uns Vermögen viel ungleicher verteilt ist als in anderen Ländern. Wir müssen auch an eine breitere Verteilung von Aktien ran. Das betrifft nicht nur die Altersvorsorge. Ich plädiere für ein steuerfreies Aufstiegsvermögen für alle.
Frage: Und wie sieht das konkret aus?
Vogel: Der Freibetrag bei Kapitalerträgen darf nicht verfallen, wenn man ihn in einem Jahr nicht nutzt. Wer ihn beispielsweise die ersten 18 Lebensjahre nicht nutzt, erhält dann den kumulierten Freibetrag. Zweitens sollten wir ihn einmalig erhöhen. Wenn wir einen Inflationsausgleich zum Freibetrag der 90er Jahre machen würden, kämen wir ungefähr bei 5.000 Euro raus. Und dann sollten wir ihn dynamisieren, also jährlich um drei Prozent steigen lassen. Damit unterstützen wir alle, die kleine Beträge anlegen. Und die großen Vermögen zahlen weiter Kapitalertragssteuer. Mit diesem Modell kann jede und jeder mit monatlichen Sparraten, die zum Beispiel ab Geburt zunächst die Eltern durch einen kleinen Anteil vom Kindergeld bezahlen, sogar als Millionär in Rente gehen.
Frage: Herr Vogel, vielen Dank für das Interview.