Dr. Florian Toncar
Pressemitteilung

TONCAR-Interview: Die Kanzlerin wird einiges aufzuräumen haben

Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Florian Toncar gab „t-online.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Mauritius Kloft:

Frage: Herr Toncar, welche Schuld trägt Angela Merkel am Wirecard-Skandal?

Toncar: Die Kanzlerin trägt keine direkte Schuld, aber: Angela Merkel hat Wirecard im Herbst 2019 den Rücken gestärkt. Zumindest hat sie einen Anteil daran.

Frage: Sie meinen durch ihr Lobbying in China?

Toncar: Ja. Merkel hat sich im September 2019, also ein Dreivierteljahr bevor der Konzern implodiert ist, für Wirecard eingesetzt. Damals befand sich das Unternehmen in einer besonders kritischen Phase, …

Frage: … weil die Vorwürfe der Bilanzfälschung längst im Raum standen.

Toncar: Genau. Wirecard hat damals die Übernahme eines chinesischen Unternehmens genutzt, um sich Zuhause in ein gutes Licht zu rücken. Wirecards China-Deal kam auch durch Merkel zustande.

Frage: Wusste denn Merkel, was sie da tut?

Toncar: Nein, ganz sicher nicht, Merkel war unwissend. Aber auch das kann man ihr vorwerfen. Und unser Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat es ausgenutzt.

Frage: Können Sie das ausführen?

Toncar: Zu Guttenberg hat als Lobbyist seines Unternehmens Spitzberg Partners für Wirecard gearbeitet. Das Ziel war der spektakuläre Einstieg von Wirecard auf dem chinesischen Markt – als erstes europäisches Unternehmen mit einer landesweiten Lizenz in China.

Frage: Wann genau war das Vorsprechen bei Merkel?

Toncar: Das war am 3. September 2019. Einen Tag später trat Merkel ihre Reise nach China an, wo sie sich mit Staatspräsident Xi Jinping traf. Diese wenigen Stunden zwischen den beiden Treffen haben nicht ausgereicht, damit sich das Kanzleramt über die Untersuchungen gegen Wirecard, die damals bereits liefen, informieren lassen konnte. Doch Merkel hätte auch schlicht ablehnen können, so spontan für Wirecard zu werben.

Frage: Sie sagte am Freitag aus, dies sei ein normaler Vorgang gewesen. Wirecard habe keine besondere Rolle bei ihrem Besuch in China gespielt.

Toncar: Kann sein, bei solchen Besuchen geht es immer um zahlreiche Themen. Trotzdem gilt: Sie hätte sich nicht von zu Guttenberg vor den Karren spannen lassen dürfen. An der Stelle kommt aber ihr Wirtschaftsberater ins Spiel, Lars-Hendrik Röller. Ihm lagen Informationen über die Vorwürfe gegen Wirecard vor, und er hätte Merkel warnen können, zumal er in China mit dabei war.

Frage: Hat er aber nicht. Oder?

Toncar: Nein, und nun wird es noch brisanter: Denn es ist nicht auszuschließen, dass Herr Röller befangen war. Seine Frau hat nur wenige Monate später versucht, Wirecard mit einem anderen Unternehmen zusammenzubringen – ausgerechnet auf dem chinesischen Markt. Die Kanzlerin reagierte ausgesprochen schmallippig, schon fast verärgert, als die Rolle ihres Beraters im U-Ausschuss zur Sprache kam. In der Tiefe schien sie das nach meinem Eindruck noch nicht gewusst zu haben. Die Kanzlerin wird intern einiges aufzuräumen haben – allerdings haben wir da keinen direkten Einfluss mehr drauf.

Frage: Das Aufräumen gilt auch für andere Ministerien – allen voran das Finanzministerium. Hier steht besonders Staatssekretär Jörg Kukies und Minister Scholz in der Kritik.

Toncar: Völlig zurecht! Jörg Kukies hatte so viele Berührungspunkte mit Wirecard wie kaum jemand anderes. Auch den mittlerweile inhaftierten Chef des Unternehmens, Markus Braun, hat er zu einem sehr heiklen Zeitpunkt im Herbst 2019 besucht. Und bei den wichtigen Entscheidungen hat Kukies nicht oder falsch reagiert. Man kann Jörg Kukies einen hohen Sachverstand bei Finanzmarktfragen nicht absprechen. Doch in der Causa Wirecard hat er versagt.

Frage: Können Sie das erläutern?

Toncar: Kukies hat etwa nicht eingegriffen, als es darum ging, dass die Bafin im Februar 2019 ein rechtswidriges Leerverkaufsverbot auf Wirecard-Aktien verhängt hat, und auch nicht im Oktober 2019, als sich die Vorwürfe gegen das Unternehmen dramatisch zuspitzten – um nur zwei Momente zu nennen, an denen er die Dinge zum besseren hätte wenden können.

Frage: Wie bewerten Sie das Verbot, dass Investoren auf das Fallen des Wirecard-Aktienkurses wetten können?

Toncar: Das war sicher das größte Versagen der Finanzaufsicht bislang. Der Bafin lag im Januar 2019 der Untersuchungsbericht einer Anwaltskanzlei aus Singapur vor, in dem detailliert ausgeführt wurde, wie bei Wirecard vor Ort Dokumente gefälscht und die Rechnungslegung manipuliert wurde. Auch der Financial Times lag das Material vor, sie berichtete darüber in mehreren Artikeln. Natürlich ging die Wirecard-Aktie danach in den Keller. Wirecard verteidigte sich damit, das seien alles Lügen, die Financial Times stecke mit Spekulanten unter einer Decke, die ihr Geld mit Wetten auf fallende Aktienkurse machten. Die Anwälte von Wirecard lieferten die passenden – erfundenen – Beweise, die von der Staatsanwaltschaft München und der Bafin ohne kritische Prüfung als glaubhaft eingestuft wurden.

Frage: Und dann?

Toncar: Die Bafin erließ daraufhin das spektakuläre Verbot von Leerverkäufen und zeigte die Journalisten der Financial Times wegen Marktmanipulation an; die Münchner Staatsanwälte nahmen Ermittlungen auf. Der Markt wertete das zurecht als Rückendeckung der Behörden für Wirecard, und Journalisten und Blogger, die sich bis dato kritisch mit Wirecard auseinandergesetzt hatten, wurden eingeschüchtert. Wirecard wusste das für sich zu nutzen, der Aktienkurs ging wieder hoch und das Unternehmen konnte im Laufe des Jahres 2019 in aller Ruhe weitere rund zwei Milliarden Euro Schulden aufnehmen. Das Geld liegt jetzt vermutlich bei Jan Marsalek und seinen Freunden.

Frage: Aber Scholz sagte doch aus, dass er nichts von dem Leerverkaufsverbot wusste?

Toncar: Wir wissen zumindest, dass eine E-Mail rechtzeitig vorher an seine Büroleiterin und an seinen Staatssekretär Kukies ging. Den Beamten im Finanzministerium war also vollkommen klar: Hier passiert etwas Außergewöhnliches. Das ist kein Alltagsgeschäft, das ist für die politische Leitung wichtig. So war es ja auch. Nur leider kam niemand im Ministerium auf die Idee, diese skandalöse Maßnahme zu stoppen.

Frage: Nun schickt sich Scholz jedoch an, im September Kanzler zu werden. Hat der Wirecard-Skandal seiner Kandidatur geschadet?

Toncar: Der Milliardenbetrug, der Wirecard-Skandal, wird Scholz weiter verfolgen – sowohl im Wahlkampf als auch wenn es eines Tages um die Bilanz seiner Amtszeit geht. Doch seine Bilanz bei Wirecard steht nur stellvertretend für seine Bilanz als Minister.

Frage: Wie meinen Sie das?

Toncar: Scholz war nie ein fachlich engagierter Finanzminister, der tieferes Interesse an finanzpolitischen Themen gezeigt hat. Das beweist beispielsweise sein Desinteresse an der Stärkung der Aktienkultur oder einem wettbewerbsfähigen Steuersystem in Deutschland. Stattdessen sah er sich vier Jahre lang eher als Vizekanzler mit großer Macht, als Generalist, der bei allen Themen mitredet, Rente, Mindestlohn, Lockdown, Impfstoff und so weiter. Jetzt ist er Kanzlerkandidat. Doch gerade sein geringes Interesse an seinem eigenen Ressort, hat nun womöglich seinen Anteil daran, dass Scholz sein Ziel, Kanzler zu werden, nicht erreicht. Das wäre in der Tat Ironie des Schicksals.

Frage: Zurückgetreten ist – bei all Ihrer Kritik – aber noch kein Minister oder Staatssekretär. Seien wir ehrlich, auch dieser U-Ausschuss hat doch kaum etwas gebracht. Oder?

Toncar: Doch. Er hat mehr geleistet als in der Kürze der Zeit zu erwarten war. Binnen eines halben Jahres haben wir mehr als 90 Zeugen gehört, Tausende Akten gesichtet. Wir haben oft mehrmals pro Woche bis tief in die Nacht getagt – bis 3 oder 4 Uhr morgens, um den Politikskandal hinter dem Betrugsskandal zu durchleuchten. Und mit dem Abgang des Chefs der Finanzaufsicht, Felix Hufeld, seiner Stellvertreterin Elisabeth Roegele, des Chefs der Wirtschaftsprüferaufsicht Apas, Ralf Bose, und des Präsidenten der Prüfstelle für Rechnungslegung, Professor Ernst, gab es aufgrund unserer Arbeit personelle Konsequenzen. Auch bei EY, der Deutschen Bank und anderswo übrigens. Ehrlich gesagt: Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viel erreichen.

Frage: Mit „wir“ meinen Sie sich, Danyal Bayaz von den Grünen und Fabio De Masi von den Linken?

Toncar: Ich meine den gesamten U-Ausschuss. Aber ja: Wir drei haben sicher im Besonderen dazu beigetragen, das politische Versagen aufzuklären. Das lief in der persönlichen Zusammenarbeit wirklich ausgezeichnet. Alleine bekäme man in einem derartig umfangreichen Untersuchungsausschuss bei der aufgeheizten politischen Gemengelage in einem Wahljahr auch nicht viel hin.

Frage: Ihr Kollege De Masi wird im September nicht mehr für den Bundestag kandidieren. Wie traurig sind Sie darüber?

Toncar: Ich kann seine Beweggründe voll verstehen. Aber es ist ein fachlicher und menschlicher Verlust. Bei allen politischen Differenzen: Ich schätze Fabio sehr. Er ist ein kluger Kollege mit der richtigen Portion Humor und er ist ein echtes Arbeitstier. Es gab ja trotz des ernsten Themas auch komische Momente.

Frage: Und zwar?

Toncar: Etwa als der mittlerweile 82-jährige frühere Kanzleramtsminister Bernd Schmidbauer detailliert berichtete, was er alles seit Jahren über Jan Marsalek wusste, und dabei seine wesentlich jüngeren Kollegen vom heutigen BND ziemlich alt aussehen ließ. Die hatten nämlich keine Ahnung. Oder als die ehemalige Assistentin von Markus Braun erzählte, dass sie den ganzen Tag nichts zu tun hatte, weil der CEO seinen Kalender selbst führte, seine E-Mails selbst beantwortete, kaum Termine hatte, nie auf Reisen war. Ohne solche skurrilen, komischen Momente hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft, so intensiv an dem Thema zu arbeiten.

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