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THOMAE-INTERVIEW: Das Vorgehen erinnert an Völkermord
Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Stephan Thomae gab der „Augsburger Allgemeinen“ (Donnerstagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Stefan Lange.
Frage: Herr Thomae, Den Haag war gerade Schauplatz einer internationalen Konferenz zur Verfolgung von russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Aus dem Kriegsgebiet erreichen uns fast täglich Bilder und Meldungen über Gräueltaten. Bietet das Völkerstrafrecht eigentlich genügend Möglichkeiten, um die Verantwortlichen, namentlich Wladimir Putin, zur Verantwortung zu ziehen?
Thomae: Rechtlich haben wir durchaus Instrumente in der Hand. Sowohl das internationale Völkerstrafrecht wie auch das deutsche Völkerstrafgesetzbuch bieten das Handwerkszeug, um die vier Völkerrechtsverbrechen, also Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen des Angriffskrieges und den Völkermord, zu ahnden. Das zeigt, dass die regelbasierte, internationale Gemeinschaft angesichts grausamer Völkerrechtsverbrechen nicht sprachlos ist. Sie hat durchaus Antworten, um auf einen solchen Rechtsbruch zu reagieren.
Frage: Das hört sich jetzt relativ einfach an, dürfte aber nicht so einfach umzusetzen sein?
Thomae: Die Probleme liegen tatsächlich in der Rechtsumsetzung. Strafrechtlich gesehen ist der Krieg in der Ukraine der vielleicht am besten dokumentierte Krieg, den es jemals gab. Es sind bislang etwa 15.000 Kriegsverbrechen dokumentiert. Die Herausforderung ist zu ermitteln, wer die Verantwortlichen in all diesen Fällen sind und diese dann auch vor ein Gericht zu stellen. Das ist sicher noch ein weiter Weg. Aber was wir können, ist gegen diejenigen vorzugehen, die als Tatverdächtige identifiziert wurden. Diese können sich in kaum einem Land der Welt mehr vor Verhaftung und Strafverfolgung sicher fühlen. Das ist schon ein großer Unterschied zu früheren Zeiten.
Frage: Das Beweismaterial wird von vielen Stellen gesammelt, darunter auch NGOs. Könnte das ein Problem sein, dass am Ende so viel Material da ist, dass niemand mehr eine Übersicht hat und es an den falschen Stellen landet?
Thomae: Das Völkerstrafrecht ist ein lernendes System. Diese Rechtsnormen gibt es noch nicht sehr lange. Vorbilder sind beispielsweise Verfahren zu den Vorfällen in Ruanda und im Kosovo. Es gibt also Beispiele, die zeigen, dass das Völkerstrafrecht durchaus erfolgreich zu Strafverfolgung und Verurteilung führen kann. Aber wir sind immer noch am Anfang einer Entwicklung, von der wir hoffen, dass sie zu einem scharfen Schwert des internationalen Rechts wird. Wir sind erst dabei, dieses Schwert zu schärfen. Es gibt Optimierungsbedarf und daher wurde auch kritisiert, dass die Beweissicherung noch zu unstrukturiert sei, sie zu sehr ins Blaue hineinführt. Auch seien die Regeln der Beweissicherung noch zu unklar.
Frage: Welche zum Beispiel?
Thomae: Zum Beispiel, welche Beweise verwertet werden können, die Prüfung der Validität und einiges mehr. Da befinden wir uns noch im Lernprozess und deswegen teile ich die Kritik auch nicht, dass es zu viele Ermittlungen gibt und diese zu unstrukturiert sind. Das ist ein wichtiger Teil eines Weges, auf den wir uns begeben müssen, um nach und nach das Instrument zu schärfen.
Frage: Ist Den Haag der richtige Ort für die Verhandlungen? Es gibt ja auch Stimmen, die sagen, man muss nach Straßburg gehen, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Thomae: Es war ein wichtiger Schritt, den Internationalen Strafgerichtshof zu verwirklichen. Vor 24 Jahren, im Jahr 1998, ist das Römische Statut beschlossen worden. Vier Jahre später, vor genau zwanzig Jahren, wurde der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag errichtet. Das war ein großer Schritt, an dem Deutschland entscheidenden Anteil hatte. Das jetzt wieder aufzugeben wäre kein Fortschritt. Ich plädiere sehr dafür, den Internationalen Strafgerichtshof, der sich ja auch bereits als durchsetzungsstark bewährt hat, beizubehalten und fortzuentwickeln. Deutschland war immer ein sehr starker Förderer des Internationalen Strafgerichtshofs, darauf können wir durchaus stolz sein.
Frage: Ist das ein Völkermord, was wir in der Ukraine erleben?
Thomae: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe eine starke Tendenz zu sagen: Ja, was wir in der Ukraine beobachten, erinnert an Völkermord. Der Vorwurf wiegt schwer, es ist das schlimmste Verbrechen im Völkerstrafrecht. Man muss die Vorgänge deshalb genau untersuchen. Unter Völkermord versteht man übrigens nicht nur gezielte Tötungen, es gibt auch den Völkermord ohne Mord.
Frage: Das müssen Sie bitte erklären.
Thomae: Ein Anzeichen für Völkermord ist zum Beispiel, dass Kinder aus der Ukraine deportiert und nach Russland verschleppt wurden. Die kulturelle Entwurzelung, die Trennung von Menschen von ihren staatlichen, territorialen, kulturellen oder ethnischen Wurzeln kann Völkermord sein. Oder dass der Ukraine das Existenzrecht als Nation und die Identität als Volk abgesprochen wird. Von daher gibt es eine Reihe von Anzeichen, dass wir es in der Ukraine mit einem Völkermord zu tun haben. Aber wie gesagt: Das ist ein schwerer Vorwurf, der eingehend geprüft werden muss.
Frage: Sollte der Bundestag darauf reagieren? Wir erinnern uns an die Debatte 2016, als es um den Völkermord an den Armeniern ging und das Parlament gegen heftigen türkischen Protest eine Resolution verabschiedete. Aktuell steht der Völkermord an den Jesiden auf der Tagesordnung. Ist es also an der Zeit, dass der Bundestag mit Blick auf die Ukraine ein Zeichen setzt?
Thomae: Wenn wir bei eingehender Prüfung zu dem Ergebnis kommen, dass es sich bei dem Geschehen in der Ukraine um Völkermord handelt, beziehungsweise wesentliche Merkmale erfüllt sind, dann sollte sich der Deutsche Bundestag in der Tat dazu verhalten. Er könnte dann die Vorgänge in einer Entschließung als Völkermord einstufen, wie es beispielsweise die baltischen Staaten und Kanada schon getan haben.
Frage: Aber müsste man warten, bis Den Haag ein Urteil gefällt hat?
Thomae: Völkermord ist einerseits ein Rechtsbegriff. Es müssen die Tatbestandsmerkmale des Völkermords erfüllt sein. Der Bundestag kann aber durchaus von sich aus in einer politischen Entschließung feststellen, dass er die Tatbestandsmerkmale als erfüllt ansieht. Dazu ist kein Gerichtsurteil notwendig. Man sollte sich hier aber sicher sein. Es handelt sich eben um den gravierendsten Vorwurf des Völkerrechts.