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THOMAE-Gastbeitrag: Losverfahren ist keine Alternative zu demokratischen Wahlen
Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Stephan Thomae schrieb für „FOCUS online“ den folgenden Gastbeitrag:
Die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ fordern, dass nicht mehr gewählte Parlamente, sondern geloste Gesellschaftsräte politische Entscheidungen treffen sollen. Ein geloster Gesellschaftsrat ist aber keine Alternative zu demokratisch legitimierten Wahlen.
In unserer repräsentativen Demokratie bestimmen Bürgerinnen und Bürger, wer über die Geschicke unseres Landes entscheidet. So weit so bewährt. In Zeiten multipler Krisen und komplexer Herausforderungen scheint der Wunsch in der Bevölkerung nach mehr direkter Teilhabe an der Politik zu wachsen. Ein Beispiel dafür sind Initiativen für per Los gewählte Bürgerräte. Das kann durchaus die Demokratie stärken. Das Losverfahren kann jedoch kein Ersatz für demokratisch legitimierte Wahlen sein.
Es mangelt in Deutschland nicht an Initiativen zur Bürgerbeteiligung. Es gibt bundesweite, landesweite und lokale Bürgerräte. Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ fordern aber jetzt, dass nicht mehr gewählte Parlamente, sondern geloste „Gesellschaftsräte“ politische Entscheidungen treffen sollen, beispielsweise in der Klimapolitik. Die Beschlüsse des Gesellschaftsrates sollen, im Gegensatz zu den unverbindlichen Empfehlungen eines Bürgerrates, verbindlich sein.
Diese Forderung unterliegt der Vorstellung, dass das Losverfahren eine überzeugende Alternative zu demokratisch legitimierten Wahlen ist. Das ist mitnichten so. Zwar sind auch in Wahldemokratien Losverfahren nicht unbekannt. Die Geschichte der europäischen Demokratien beginnt sogar im antiken Athen mit losbestimmten Volksversammlungen, Gerichtshöfen und obersten Beamten. Bei der Wahl ihrer Feldherren allerdings hatten die alten Athener kein rechtes Zutrauen in die Weisheit des Loses und vertrauten die militärischen Geschicke lieber gewählten Strategen an.
In der natürlichen Auslese der Geschichte hat sich das Wahlverfahren dann aber als erfolgreicher erwiesen und letztlich durchgesetzt. Im alten Rom wurden nach der Vertreibung der tarquinischen Könige die obersten Beamten ausschließlich durch Wahl in einem komplizierten Verfahren bestimmt.
Unsere verfassungsmäßige Ordnung legt die rechtsetzende Gewalt ausschließlich in die Hand gewählter Volksvertretungen. Dabei geht unsere Verfassung von der Einheit des Staatsvolkes aus. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, was nicht heißt, dass sie umsetzen müssen, was eine „Mehrheit des Volkes“ oder gar „das Volk“ möchte, welches es ohnehin nicht als Einheit gibt.
Vielmehr gehört sogar zum wesentlichen Verständnis unserer Repräsentativdemokratie, dass auch die Anliegen von Minderheiten einfließen. Der Gedanke, der den losbestimmten Bürger- und Gesellschaftsräten zugrunde liegt, nämlich dass einzelne Bevölkerungsgruppen in einem Parlament proportional vertreten sein müssen, und nur ein Angehöriger einer Gruppe diese auch vertreten kann, ist unserer Idee von der Einheit des Staatsvolkes fremd.
Deshalb können geloste Bürger- und Gesellschaftsräte nur unterhalb, nicht neben oder gar über einem gewählten Parlament stehen. Es kann deshalb keine durch Los gewählten Gesellschaftsräte geben, die den durch Wahl gebildeten Parlamente diktieren, was sie umzusetzen haben. Denn das wäre ein grundlegend anderes Verständnis von Demokratie, es wäre Los-Souveränität statt Volks-Souveränität.
Bürgerräte können Ausdruck einer lebendigen, partizipativen Demokratie sein. Man darf an die Idee eines Bürgerrates aber keine überzogenen Erwartungen anlegen. Ein solcher Rat ist kein Überparlament, welches die parlamentarischen Aushandlungsprozesse auflösen könnte. Das Findungsverfahren eines Parlaments ist kein lästiger, unnötiger Streit, der geschlichtet werden müsste, sondern notwendiger Diskurs, um die Vielfalt der in einer Gesellschaft vorhandenen Spannungen zu erfassen und, soweit es möglich ist, auszutarieren.
Zudem spielen bei einem Bürgerrat wesentlich mehr Zufälle eine Rolle, als man für ein ausgewogenes Ergebnis zu steuern vermag. Das betrifft vor allem die zufällige Zusammensetzung, aber auch die Rolle der Moderatoren und Berater. Ein Bürger- oder Gesellschaftsrat müsste sehr groß sein und sehr lange tagen, um mehr als eine Momentaufnahme einer kleinen Gruppe zu liefern.
Er taugt auch nicht als alternative Plattform für Multifunktionäre mit übersteigertem Sendungsbewusstsein, die sich den mühsamen Weg und die Diskussionen mit den Wählern und der Öffentlichkeit gerne ersparen wollen, die ein öffentliches Amt nun einmal mit sich bringt. Ein Bürgerrat kann auch nicht die Meinungsforschung ersetzen. Was Menschen denken und wie sich dieses Denken beständig verändert, vermögen Meinungsforscher mit ihrem ausgeklügelten und dennoch nicht fehlerfreien Instrumentarium genauer zu ergründen als es einem Bürger- oder Gesellschaftsrat jemals möglich wäre.
Unsere parlamentarische Demokratie ist im weltweiten Vergleich und mit Blick auf die deutsche Geschichte ein Glücksfall. Dennoch muss auch eine parlamentarische Demokratie eine Fehlerkultur besitzen und in der Lage sein, ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen und zu korrigieren. Der Deutsche Bundestag ist erkenntnisoffen und reformfähig. Wege der Entscheidungsfindung sollen in einem „legislativen Fußabdruck“ nachvollziehbar gemacht werden. Die Nebentätigkeiten der Abgeordneten werden transparenter, die Regelungen für die Bestechung von Mandatsträgern werden reformiert, Interessenvertreter werden in einem Lobbyregister publiziert und die Ampel-Koalition wird das Konzept der Bürgerräte erproben.
Ein Gesellschaftsrat mit Entscheidungsgewalt, wie es offensichtlich den Anhängern der „Letzten Generation“ vorschwebt, wäre aber kein Fortschritt. Komplexe Probleme lassen sich nun einmal nicht durch unterkomplexe Verfahren lösen. Insbesondere wer Beschlüsse von weitreichender Konsequenz für das Leben der Menschen treffen will, braucht eine starke Legitimation, die ein Losverfahren nicht bieten kann.