Christian Lindner
Pressemitteilung

LINDNER-Interview: Niemand in der FDP findet Putin gut

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner gab der „Welt am Sonntag“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Peter Huth, Thorsten Jungholt und Jacques Schuster:

Frage: Herr Lindner, die Bundeskanzlerin hat sich hinter Großbritannien gestellt und Russland für den Giftgasanschlag in Salisbury verantwortlich gemacht. Zu Recht?

Lindner: Wenige Tage nach dem Anschlag war ich zufällig zu Gesprächen mit Regierungsvertretern in London. Dort hörte ich keine Vorverurteilung, sondern Aufklärungsinteresse. Deshalb vertraue ich der britischen Regierung mehr als der russischen Propaganda. Als Teil der westlichen Wertegemeinschaft und des transatlantischen Bündnisses ist es richtig, dass wir unseren britischen Freunden beistehen.

Frage: Falls die Organisation für das Verbot chemischer Waffen in Den Haag nach ihrer Untersuchung belegen kann, dass es sich um von Russland produziertes Nervengift handelt: Wie sollte der Westen darauf reagieren?

Lindner: Mit klaren Konsequenzen, über die im Einzelnen vorab aber nicht spekuliert werden sollte. Die FDP besorgt die zunehmende Spannung mit Moskau. Die Gründe dafür liegen aber in der russischen Innenpolitik. Präsident Putin versucht seine Macht dadurch zu sichern, dass er Konflikte nach außen trägt und nationalistisch-imperiale Gefühle mobilisiert. Wir sind an Entspannung mit Russland interessiert, irgendwann später sind vielleicht auch wieder Kooperation und Partnerschaft möglich. Dazu muss Russland seine militärischen Drohgebärden, die Destabilisierungsversuche westlicher Demokratien und Geheimdienstoperationen in europäischen Staaten beenden. Von Entspannung könnten beide Seiten profitieren.

Frage: Präsident Wladimir Putin ist gerade wiedergewählt worden. Wird sich seine Politik dem Westen gegenüber nun ändern?

Lindner: Gegenwärtig halte ich das für unwahrscheinlich. Da nun die letzte Amtszeit Putins angebrochen ist, werden wir in den nächsten Jahren innerrussische Rochaden aller Art erleben, die Veränderungen der Außenpolitik Moskaus erschweren. Wir können uns bemühen, Putin die Rückkehr auf einen Pfad der Entspannung zu erleichtern. Aber gehen muss er diesen Schritt selbst. Mir scheint, er hat sich so verstrickt in der Vielzahl von Konflikten und Propaganda-Geschichten, dass er sich einen gegenüber der eigenen Bevölkerung gesichtswahrenden Politikwechsel selbst erschwert hat.

Frage: Angesichts der russischen Aufrüstung moderner Mittelstreckenraketen: Muss die Nato nachrüsten, müssen wir Sanktionen verschärfen?

Lindner: Eine Aufrüstungsspirale kann niemand wollen. Die Bereitschaft zu dieser eisernen Konsequenz muss aber glaubhaft sein, um ein Umdenken in Russland zu erreichen. Ich erinnere an die deutsche Ostpolitik, die entschlossenes Handeln und Wehrhaftigkeit einerseits mit immer wieder neuen Kooperationsangeboten andererseits verbunden hat. Der Nato-Doppelbeschluss ist dafür das Symbol. Er hat gewiss einen größeren Beitrag zur Überwindung des Kalten Krieges geleistet als die Friedensbewegung. Heute geht es immer noch um diese Verbindung von Konsequenz und Dialogbereitschaft.

Frage: Müssen wir die noch in Deutschland stationierten Atomraketen also modernisieren?

Lindner: Angesichts der neuen russischen Aufrüstung bei landgestützten nuklearbestückten Marschflugkörpern müssen wir erkennen, dass wir eine neue Lage haben. Wir sollten momentan jedenfalls nicht mehr über einen Abzug sprechen, wie ihn die FDP 2009 noch für möglich gehalten hat. Die Entscheidung über eine Modernisierung müssten die USA treffen, Deutschland stellt ja nur die Trägersysteme. Mir geht es aber um etwas anderes. Ich würde begrüßen, wenn sich die russische Politik derart ändert, dass uns jede Debatte über Militär erspart bliebe und der kulturelle Austausch und der Handel blühen. Deshalb sollte eine neue Wehrhaftigkeit des Westens auch mit einem neuen Entspannungsdialog verbunden werden im Sinne eines neuen Doppelbeschlusses.

Frage: Hat es denn an Dialogbereitschaft seitens des Westens gefehlt?

Lindner: Es gibt keine Entschuldigungen für die russischen Provokationen. Aber der Westen muss sich fragen lassen, ob er immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Ich meine ausdrücklich nicht die Osterweiterung der Nato. Es ist eine populäre Lüge, dass es eine Absprache mit Herrn Gorbatschow gegeben habe, die Nato werde keine neuen Mitglieder in Osteuropa aufnehmen. Wie auch? Ihr Beitritt war schlicht Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Was ich aber bedauere, ist das kommentarlose Auslaufenlassen des EU-Russland-Partnerschaftsvertrages. Und ich halte es für falsch, dass Putins Initiative im Bundestag für ein Freihandelsabkommen unbeantwortet geblieben ist. In ferner Zukunft könnte das wieder anders werden. Ich empfehle heute, die bestehenden Gesprächskanäle mit Moskau zu intensivieren. Außerdem sollte Russland wieder an den Kreis der G8 herangeführt werden. Ein Zwischenschritt könnte ein Format G7+1 sein.

Frage: Es gibt in der FDP Stimmen, die mehr fordern – nämlich ein Ende der westlichen Sanktionen gegenüber Russland.

Lindner: Die Sanktionen sind bedauerlich – aber gegenwärtig notwendig. Eine einseitige Rücknahme ohne Politikwechsel in Moskau wäre nicht verantwortbar. Das ist die aktuelle Beschlusslage meiner Partei.

Frage: Im Wahlkampf haben Sie noch dafür geworben, die Krimkrise „einzukapseln“ und Sanktionen aufzuheben, auch wenn das Minsker Friedensabkommen nicht vollständig erfüllt ist.

Lindner: Präzision bitte, denn das war niemals meine Position. Die Krim ist die größte Hürde für Entspannung. Wenn man von dieser Krise alles abhängig macht, dann wird sich gar nichts bewegen. Der Völkerrechtsbruch auf der Krim kann nicht akzeptiert werden, aber an leichteren Fragen sollte man prüfen, ob Russland aus der Eskalationsspirale wieder heraus möchte. Das war und ist meine Haltung. Wenn es positive Signale aus Moskau gibt, dann sollten diese positiv beantwortet werden, auch wenn es noch keine Lösung für die Krim gibt.

Frage: Vor allem die östlichen Landesverbände der FDP sträuben sich gegen die bisherige deutsche Russlandpolitik. Sind Ihre Parteifreunde dort im außenpolitischen Wertesystem des Westens angekommen?

Lindner: Die ganze FDP wünscht sich neue Bewegung im Verhältnis mit Russland. Die Debatte in meiner Partei überzeichnen Sie aber. Richtig ist, dass ich in Ostdeutschland generell eine andere Nuancierung als im Westen sehe. Das hängt mit unterschiedlichen Prägungen und wirtschaftlichen Verflechtungen zusammen. Für mich ist klar: Fragen der Sicherheit, des Völkerrechts, der Menschenrechte stehen über wirtschaftlichen Interessen. Im Übrigen ist mir kein FDP-Mitglied bekannt, das den im Kern autoritären, imperial auftretenden, homophoben Putin gut findet. Solche Leute finden Sie in der AfD. Und die sozialdemokratische Gaslobby gehört ja auch zu seinen Fans.

Frage: Sie meinen Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Wie stehen Sie zu dessen Engagement für die Gaspipeline Nordstream II?

Lindner: Nordstream II ist ein interessantes privatwirtschaftliches Projekt. Wenn Russland politisch weiter so vorgeht, wie es das tut, dann sehe ich die Unterstützung für Nordstream II schwinden. Ich empfinde es als inkonsequent, dass die große Koalition Völkerrechtsbruch beklagt, aber russische Pipelineprojekte unterstützt. Viele europäische Partner lehnen das ab. Wenn man dieses Projekt realisiert, dann muss es ein gesamteuropäisches sein – und kein Projekt der Spaltung.

Frage: Die prominenteste FDP-Stimme gegen die Sanktionen ist die von Parteivize Wolfgang Kubicki. Wie erklären Sie sich seine Haltung?

Lindner: Das ist seine Interpretation der Entspannungspolitik. In dieser Frage geht er in der FDP schon lange seine eigenen Wege.

Frage: Sie haben eben von der sozialdemokratischen Gaslobby gesprochen. Ist Kubicki nicht Teil dieser Lobby, weil seine Anwaltskanzlei in dieser Frage ebenfalls engagiert ist?

Lindner: Ist sie das denn? Ich weiß das nicht, und ich wäre an Ihrer Stelle mit solchen Unterstellungen vorsichtig.

Frage: Es gibt Schreiben, in denen der Kanzleiname auftaucht. Aber bleiben wir bei der FDP: Erwarten Sie von Ihrem Stellvertreter nicht, dass er die Parteiposition vertritt?

Lindner: Wir sind keine Kaderorganisation, sondern eine liberale Partei. Unsere Beschlüsse zur Russlandpolitik haben wir aber zumeist einstimmig gefasst. Wolfgang Kubicki spricht in der Frage also für wenige oder für sich selbst.

Frage: Was wäre Ihr Vorschlag für eine Regelung mit Russland, die den Ukraine-Konflikt entschärft?

Lindner: Ich bin der Auffassung, dass man die zwingend vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens kritisch überdenken kann, wenn Russland ein erkennbares Entgegenkommen zeigt. Das Abkommen hat den Haken, dass es darauf setzt, einerseits innenpolitische Reformen in der Ukraine zu verlangen und andererseits völkerrechtskonformes Verhalten Russlands einzufordern. Dadurch kann Moskau immer darauf verweisen, dass es ja auch in Kiew nicht vorangehe. Hilfreich als erste Geste wäre zum Beispiel, wenn Russland Wahlbeobachter auf der Krim zulassen würde.

Frage: Sie wollen also mit Russland ohne die Ukraine über die Ukraine reden?

Lindner: Nein, in Fragen, die die Ukraine betreffen, muss Kiew natürlich am Tisch sitzen. Mir geht es darum, dass das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland über die Ukraine hinausgeht. Wir vergessen, dass es viele andere Konflikte dieser Art gibt. Denken Sie an Syrien, die neue nukleare Bedrohung, Transnistrien oder Georgien. Das alles kann man nicht allein von der Ukraine abhängig machen. Sie ist nur ein Teil der angespannten Gesamtsituation mit Moskau.

Frage: Die USA unter Präsident Donald Trump scheinen für Europa kein verlässlicher Partner mehr zu sein. Müssen wir deshalb selbst spürbar aufrüsten?

Lindner: Ihre Einschätzung teile ich nicht. Wir haben Probleme mit Herrn Trump. Aber eine schwierige Präsidentschaft prägt nicht das transatlantische Verhältnis mit den USA. Es gibt im Kongress und in der Gesellschaft zudem kritische Gegenimpulse. Die aktuellen Wahlergebnisse haben auch gezeigt, dass kein republikanischer Durchmarsch zu erwarten ist.

Frage: Wie schätzen Sie Trump denn ein?

Lindner: Ich kann Herrn Trump aus der Entfernung nicht lesen. Man sollte bei ihm immer wieder versuchen, einen rationalen Zugang zu finden. Leider hat es die Bundeskanzlerin offenbar versäumt, eine intensive Pendeldiplomatie mit der Trump-Administration aufzunehmen. Das muss sich ändern.

Frage: Immerhin scheinen Bundesregierung und EU Trumps angedrohte Strafzölle noch abgewendet zu haben.

Lindner: Nach seinem jüngsten, vorläufigen Entgegenkommen in Handelsfragen ist die Gelegenheit günstig. Es wäre jetzt der Zeitpunkt, sich in Washington mit Herrn Trump zusammenzusetzen, um grundsätzlich über transatlantischen Freihandel zu reden. TTIP muss raus aus der Tiefkühltruhe. Um ihn dafür zu gewinnen, wäre es geschickt, zunächst einmal CETA mit Kanada zu ratifizieren – auf die Verhinderer von den Grünen muss Frau Merkel keine Rücksicht mehr nehmen. Herrn Trump könnte so verdeutlicht werden, dass wir Alternativen im Handel haben. Er scheint seine Positionen über Nacht um 180 Grad ändern zu können. Was die Nordkoreaner geschafft haben, das kann Frau Merkel auch gelingen.

Frage: In der Hochphase der Entspannungspolitik lag der Anteil der Wehrausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei drei Prozent. Warum fällt es uns heute so schwer, von derzeit 1,2 auf die zwei Prozent zu kommen, die wir der Nato zugesagt haben?

Lindner: Persönlich gehöre ich nicht zum Freundeskreis dieser festen Quoten. Stattdessen wäre zweierlei zu tun: Erstens muss eine Diskussion geführt werden über die Befähigungen, die unsere Streitkräfte brauchen – im Bereich Cyberabwehr, für die Bündnisverteidigung oder für die Kräftedispositive in den Auslandseinsätzen. Zweitens müssen wir diese Fähigkeiten dann europäisch abstimmen. Erst wenn das geschehen ist, können wir die Debatte über deutsche Haushaltsmittel führen. Wenn dann 2,5 Prozent des BIP nötig sind, okay, dann müssen wir diesen Kraftakt auf uns nehmen. Wenn aber 1,6 Prozent ausreichend sind, warum mehr aufwenden? Dann könnte man eher zivile Krisenprävention statt Militär stärken.

Frage: Emmanuel Macron will eine Koalition von militärisch Willigen in Europa für gemeinsame Einsätze. Ist Deutschland dazu bereit?

Lindner: Das Ziel ist richtig. Wichtig ist, dass eine solche Initiative klar in eine europäische Verteidigungsunion eingebettet ist und nicht in Konkurrenz zur Nato steht. Deutschland hat mit Pesco, der ständigen strukturierten Verteidigungszusammenarbeit, einen ersten Schritt getan. Die FDP kann sich mehr vorstellen, weil gemeinsame Verteidigung eine zutiefst europäische Idee ist. Wie auch immer man es konkret gestaltet, in einem jedenfalls hat Donald Trump leider Recht: Die Europäer insgesamt haben in der Nato derzeit nicht die Befähigungen, die für die eigene Sicherheit und Schutzverantwortung auf der Weltbühne nötig sind. Das müssen wir ändern.

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