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LAMBSDORFF-Interview: Ein Tag von Schock, Entsetzen und Trauer
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff gab „stimme.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Hans-Jürgen Deglow:
Frage: Herr Lambsdorff, was sind Ihre Erinnerungen an den 11. September 2001?
Lambsdorff: Ich habe damals in Washington gelebt, war an dem Tag aber nicht dort, sondern in Europa, es war für uns alle ein absoluter Schock. Ich saß in einem Raum voller weinender Menschen, wir verfolgten zutiefst bestürzt die Ereignisse in Amerika. Die Lage änderte sich minütlich und wurde immer bedrohlicher. Dann kam für mich ein ganz persönlicher Schrecken hinzu: In einer Eilmeldung hieß es plötzlich, ein viertes Flugzeug sei im Außenministerium in Washington eingeschlagen. Ich habe in den USA studiert und viele Freunde im State Department, ich fürchtete um ihr Leben. Glücklicherweise war wenigstens dies eine Falschmeldung. Insgesamt bleibt aber die Erinnerung an einen Tag von Schock, Entsetzen und Trauer.
Frage: Hat das etwas verändert, wie Sie außenpolitische Herausforderungen bewerten?
Lambsdorff: Der islamistische Terrorismus war zwar schon auf dem Radarschirm, aber er stand nicht ganz oben auf der Agenda. Das hat sich mit 9/11 dramatisch geändert. Wir hatten zwischen den großen Wendejahren 89/90/91 und dem 11. September 2001 ein Jahrzehnt der internationalen Zusammenarbeit und der globalen Konferenzen erlebt. Das Hochgefühl dieser Dekade endet abrupt und auf eine brutale Weise. Es war klar, dass die Amerikaner diesen Angriff nicht unbeantwortet lassen konnten. Es zeigte sich aber auch, wie stark die transatlantische Allianz ist. Rot-Grün, damals in der Regierung, erklärte die uneingeschränkte Solidarität der Bundesrepublik mit den USA. Das haben alle mitgetragen und das war auch absolut richtig, wie wir da zusammen gestanden haben.
Frage: Sind die Bedrohungen heute sogar vielfältiger, wenn man beispielsweise an Cyberbedrohungen denkt? Und wie gefährlich ist der Terrorismus geblieben?
Lambsdorff: Jede Epoche hat ihre Sicherheitsherausforderungen. Ich denke, dass alle Sicherheitsbehörden und alle Nachrichtendienste heute viel besser geschult sind, um islamistische Bedrohungen zu erkennen. Wir haben in Deutschland beispielsweise einige Erfolge gehabt, so wurde die Sauerland-Gruppe zerschlagen, die auch schwere Anschläge geplant hat. Aber es wird nie eine hundertprozentige Sicherheit geben können.
Frage: Wenn wir auf neue Bedrohungslagen schauen, wird immer häufiger die expansive Aufrüstungspolitik Chinas genannt. US-Präsident Joe Biden hat kürzlich sogar von der Möglichkeit eines echten Krieges zwischen Supermächten gesprochen und nannte als möglichen Auslöser Cyberattacken. Wie bewerten sie solche Aussagen?
Lambsdorff: Das wäre ein Horrorszenario, denn es handelt sich hier um zwei Nuklearmächte. Ein nukleares Armageddon wäre das Ende der Menschheit. Insofern müssen Wege gefunden werden, um einen militärischen Konflikt zu verhindern. Ich ordne Bidens Bemerkung daher als Abschreckung ein. Ich glaube, er will der Führung in Peking signalisieren, dass sie sich zurückhalten sollte mit der ständigen Kriegsführung gegen die USA und Europa im Cyberraum. Ich würde mir ähnliche Signale auch in Richtung Russland wünschen.
Frage: 20 Jahre nach dem 11. September endete der Einsatz in Afghanistan mit einem überstürzten Rückzug und der Machtübernahme durch die Taliban. Sind Sie enttäuscht von Biden?
Lambsdorff: Nein. Natürlich gibt es das eine oder andere zu kritisieren, beispielsweise was Konsultationen oder das Fehlen derselben angeht. Dass der Abzug kommen würde, stand aber seit April im Grunde fest. Darauf hätte sich die Bundesregierung einstellen müssen. Insbesondere das Szenario eines schnellen Falls der Hauptstadt Kabul wurde bei den Amerikanern ja schon diskutiert und gegenüber der Bundesregierung auch kommuniziert. Trotzdem ist die Planung nicht richtig angelaufen. Die Verantwortung für einen sicheren Abzug und gefahrlosen Evakuierung unserer eigenen Staatsangehörigen trägt die Bundesregierung, nicht Joe Biden.
Frage: Damit ein künftiger Untersuchungsausschuss einmal nachvollziehen kann, wer in der Bundesregierung was zu welchem Zeitpunkt der Afghanistan-Krise wusste und entschied, könnten mit Hilfe eines Löschmoratoriums alle Akten und Daten in verschiedenen Ministerien gesichert werden. Eine Debatte über diesen Vorstoß und das Thema Afghanistan wurde nun aber verhindert, weil Union und SPD gegen den entsprechenden Geschäftsordnungsantrag der Grünen votierten.
Lambsdorff: Tatsächlich ist ein Löschmoratorium überfällig. Wir haben doch zum Beispiel bei Scheuers Ausländermaut erlebt, dass Handydaten im Ministerium gelöscht wurden. Insofern war das ein richtiger Antrag. Außerdem darf sich Europa nicht auseinanderdividieren lassen, sondern im Gegenteil, Europa muss enger zusammenrücken in der Afghanistan-Politik. Das ist der Ansatz der Freien Demokraten, und dies wäre sicher ebenfalls eine Debatte wert gewesen. Leider haben die CDU/CSU und SPD diese Diskussion mit Geschäftsordnungstricks verhindert und sich so der berechtigten Kritik entzogen.
Frage: Der Historiker Heinrich August Winkler urteilt, dass Freiheitsbeschränkungen nach 9/11 in den Vereinigten Staaten viel autoritärer und willkürlicher gewesen seien, als wir das heute unter Corona erleben würden ...
Lambsdorff: Winkler hat recht. Der Patriot Act, der damals in den USA verabschiedet wurde, hat den Sicherheitsbehörden Überwachungsbefugnisse eingeräumt, die wir so in der Europäischen Union keinem Mitgliedsstaat durchgehen lassen würden. Allerdings haben wir auch in Deutschland in dieser Coronakrise Situationen gehabt, in denen die Bundesregierung manchmal deutlich mehr Einschränkungen wollte als wirklich erforderlich waren. Und da haben wir als Freie Demokraten dann gefragt: Ist die Maßnahme wirklich nötig, ist sie verhältnismäßig? Da haben wir unsere DNA als Bürgerrechtspartei gezeigt. Auch in einer schwierigen Situation, auch in einer Pandemie, deren Ernsthaftigkeit wir nie in Abrede gestellt haben, gilt das Grundgesetz, gelten die bürgerlichen Freiheiten.