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LAMBSDORFF-Interview: Einen Brexit-Schock kann niemand gebrauchen
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff gab „WDR 5“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Cordula Denninghoff:
Frage: Wir haben es gerade gehört, es wird spannend, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Wie sehen Sie das? Wird es Merkel und Johnson gelingen, sich da zusammenzuraufen und doch noch einen Minimalkompromiss zu finden?
Lambsdorff: Also, ich hoffe, dass es gelingt, weil das, was Ralph Sina gerade gesagt hat, etwas ist, das uns ja in der Politik in Berlin auch eint. Nach dem Corona-Schock jetzt noch den Brexit-Schock obendrauf für unsere Wirtschaft – das kann wirklich niemand gebrauchen. Wir haben ungefähr 30 000 deutsche Unternehmen, die mit Großbritannien Handel treiben. Und für jedes einzelne dieser Unternehmen hätte das ganz konkrete Konsequenzen: mehr Bürokratie, mehr Zölle, höhere Kosten. Und mit anderen Worten: Also, es wäre eine Situation, die sich wirklich niemand wünschen kann und das Gleiche gilt für die Niederlande, für die Franzosen, für die anderen europäischen Partner. Ich will deswegen hoffen, dass es der Kanzlerin gelingt, das hinzukriegen. Wir haben als FDP doch immer darauf gedrängt, weil es wirklich sonst Schwierigkeiten geben wird für die Wirtschaft.
Frage: Sehen Sie die EU auf dem richtigen Weg? Also sollte sie, so wie wir es gerade gehört haben, bei diesen Wettbewerbsbedingungen bleiben, bei den gleichen Wettbewerbsbedingungen?
Lambsdorff: Ich halte das für ein sehr anspruchsvolles Ziel. Da müssen wir uns ja eines fragen: Sind es die Wettbewerbsbedingungen, die wir heute haben, die also in einem Abkommen festgeschrieben werden? Muss sich Großbritannien sozusagen darauf einlassen, hinter die nicht zurückzufallen? Oder aber, das ist die andere Frage, ein anderer Ansatz, soll das eine dynamische Regelung sein? Das heißt bei jeder Änderung, bei jeder Anhebung eines Standards auf dem Kontinent in der Europäischen Union, will man die Briten zwingen, den nachzuvollziehen, damit die Wettbewerbsbedingungen auch gleich bleiben. Das, glaube ich, können die Briten nicht akzeptieren. Dann wären sie tatsächlich in der Union erheblich besser aufgehoben als draußen. Das gilt sowieso, aber dann kann auch niemand mehr erklären von den Konservativen, warum man mal ausgetreten ist. Also, wie diese Frage geregelt wird, das halte ich für ein ganz entscheidendes und ganz wichtiges Thema.
Frage: Wie ist das denn aus Ihrer Sicht? Wie würden Sie dieses Problem lösen, also keine Dynamik?
Lambsdorff: Ich glaube, dass mindestens eine dynamische Komponente rein muss. Und das ist der vierte Aspekt dieser Verhandlungen, die in dieser Woche geführt worden sind. Das ist der technische Teil. Wie wird so ein Abkommen eigentlich verwaltet, also die Governance des Abkommens. Und da müssen bestimmte dynamische Elemente in meinen Augen rein. Wenn wir bestimmte Tierschutzanforderungen für unsere Landwirtschaft haben beispielsweise oder bestimmte Chemikalien in der Produktion von Maschinen nicht zulassen, dann sind das Dinge, die die Briten auch akzeptieren müssen. Es gibt andere Standards, da muss man sagen, das können die Briten dann vielleicht so machen, wie sie das wollen. Ob man ein Rückgaberecht beispielsweise für ein Produkt 14 Tage oder drei Wochen hat, Verbraucherschutzrecht mit anderen Worten. Das kann da auch mal ein bisschen divergieren. Aber genau diese Gespräche sind so schwierig. Und deswegen ist die knappe Zeit, die jetzt noch übrig ist, eben auch ein echtes reales Problem. Das ist nicht ausgedacht, sondern das ist wirklich ganz real. All diese schwierigen Fragen in der kurzen Zeit bis Oktober zu lösen, das ist enorm anspruchsvoll.
Frage: Sitzt die EU am längeren Hebel, weil Großbritannien mehr zu verlieren hat?
Lambsdorff: Definitiv ja. Da braucht man ja einfach nur mal auf die Länder zu schauen. Auf der einen Seite des Kanals haben wir Großbritannien mit 60 Millionen Menschen. Und auf der anderen Seite haben wir 440 Millionen Europäerinnen und Europäer im größten Binnenmarkt der Welt. Ich glaube das, was Boris Johnson da macht, ist ein ziemliches Hochrisiko-Spiel mit dem Schicksal der britischen Wirtschaft. Ich teile die Einschätzung Ihres Korrespondenten, dass Johnson sich spät einschalten wird, weil er der Meinung ist, man kann diese Dinge erst wirklich auch spät lösen, wenn der Druck entsprechend groß ist. Aber die Briten haben hier definitiv mehr zu verlieren als die Europäische Union.
Frage: Aber jetzt in der zweiten Hälfte des Jahres hat Deutschland ja auch was zu verlieren. Denn könnte es sich Angela Merkel leisten, kein Abkommen mit Großbritannien hinzubekommen?
Lambsdorff: Ja, wir haben ja immer auch beklagt, dass die Bundesregierung so wenig tut, was die Vorbereitungen auf den ungeordneten Brexit angeht. Denn der ist nach wie vor eine Möglichkeit. Das Thema ist ein bisschen in den Hintergrund getreten durch die Corona-Krise, aber es ist ja immer noch da. Großbritannien ist nur noch wenige Monate im Binnenmarkt und es wäre schon ein schwerer Schlag ins Kontor für die Bundesregierung, wenn ihr das nicht gelänge. Und deswegen haben wir als FDP auch immer Druck gemacht, dass man hier versucht, wirklich zu Lösungen zu kommen. Aber Herr Sina, der das eben aus Brüssel ja berichtet hat, ich habe mir die Pressekonferenz von Michel Barnier ja eben auch angeguckt, hat völlig Recht, zurzeit ist der Fortschritt eine Schnecke. Und den zu beschleunigen auf Raketentempo in so kurzer Zeit, das wird eine echte Herausforderung.