Stellv. Fraktionsvorsitzender

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Alexander Graf Lambsdorff
Pressemitteilung

LAMBSDORFF-Interview: Ablehnung durch Europäisches Parlament unwahrscheinlich

Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff gab dem „Deutschlandfunk“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Christoph Heinemann:

Frage: Graf Lambsdorff, bei dem, was bisher bekannt wurde, würden Sie diesem Abkommen zustimmen?

Lambsdorff: Ich kenne die Inhalte noch nicht detailliert genug, um das seriös zu beantworten, aber ich freue mich, dass es den Unterhändlern gelungen ist ganz offensichtlich, das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen einschließlich eines großen Handelsabkommens offenbar zu finalisieren. Wir haben allein in Deutschland 30.000 Unternehmen, die Handel mit Großbritannien treiben. Da standen manchen sicher die Schweißperlen auf der Stirn, was das bedeutet hätte, wenn plötzlich Zölle, wenn plötzlich Bürokratie, wenn plötzlich Formalitäten gekommen wären. Sollte es gelingen, tatsächlich hier ein Abkommen mit Zollsätzen von null und mengenmäßigen Beschränkungen von null zu erreichen, dann wäre das erst mal was Gutes.

Frage: Wenn wir den Umfang dieses Abkommens mal in Literatur übersetzen, dann entspricht das ungefähr dem Roman „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann. Kann das Europäische Parlament über diesen Vertrag jetzt noch seriös fristgerecht abstimmen?

Lambsdorff: Nein, das ist ausgeschlossen. Und das hat das Europäische Parlament auch klargemacht. Sie können nicht über ein Handelsabkommen, das ja im Grunde wie TTIP mit Großbritannien ist – also 2000 Seiten, ganz viele Warenkategorien in den Anhängen, ganz viele Sonderregelungen für einzelne Felder –, das müssen sie prüfen, da müssen sie genau reingucken. Ich war ja selber Mitglied im Handelsausschuss, das ist wahnsinnig technisch, das ist überhaupt nicht spannend oder aufregend, das ist irrsinnig technisch. Aber damit Sie durch die Technik zur Politik kommen, müssen Sie die Sachen anschauen. Und das ist vollkommen unmöglich zwischen dem 24.12. und dem 31.12., also zwischen Weihnachten und Silvester kann das Parlament das nicht schaffen bei 2000 Seiten. Insofern wird es eine vorläufige Anwendung geben müssen, das fände ich auch richtig, aber dann wird das Parlament sich über die Texte beugen und schauen, ob man zustimmen kann oder nicht. Wie gesagt, aus Sicht der Freien Demokraten will ich ganz klar sagen, das ist ein Handelsabkommen mit einem großen und wichtigen Partner, der auch ein wichtiger Partner bleiben soll. Wir wollen ja mit Großbritannien auch weiterhin gute Beziehungen. Ich sehe da eher den Grund, zuzustimmen, aber erst nach Prüfung der Details.

Frage: Graf Lambsdorff, könnten Sie sich vorstellen, dass das Europäische Parlament diesen Vertrag ablehnen wird?

Lambsdorff: Ich bin nicht sicher, ob das Europäische Parlament hingehen wird und ein Abkommen ablehnen, von dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten, die besonders betroffen sind – und ich denke jetzt nur mal an Frankreich –, sagen, dass es in Ordnung ist, gerade was die Fischerei angeht. Das war ja wirklich der heikle Punkt bis zum Schluss. Wenn wir nur ein Feld rausgreifen, ein voll vergemeinschafteter Bereich, wo ausschließlich die Europäische Union Zuständigkeiten hat. Hier scheint es ja wohl gelungen zu sein, dass europäische Fischer, also vom Kontinent, mindestens 75 Prozent des Zugangs behalten über die nächsten fünf Jahre, den sie bisher hatten. Das ist natürlich viel mehr als Franzosen, Spanier, Portugiesen, Niederländer und Belgier erwarten durften. Insofern glaube ich, dass das Europäische Parlament es sich wahrscheinlich dreimal überlegen würde, bevor es einen solchen Vertrag dann ablehnt.

Frage: Sie haben jetzt viele Länder und Nationen genannt, inwiefern entspricht dieses Abkommen deutschen Interessen?

Lambsdorff: Ich glaube, es entspricht für den Fall, dass es das enthält, was wir vermuten, eindeutig deutschen Interessen. Großbritannien ist und bleibt ein wichtiges Partnerland. Großbritannien ist seit einem knappen Jahr nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Großbritannien wird in einer Woche aus Zollunion und Binnenmarkt ausscheiden, aber Großbritannien ist ein Land, das muss man sich nur mal klarmachen, das vom Handelsvolumen mit der Europäischen Union schon wegen der Nähe ja ungefähr so groß ist wie die USA, wenn wir das rein vom Volumen her betrachten. Deswegen habe ich gerade mit Bedacht auch gesagt, das ist wie TTIP mit Großbritannien. Und deswegen ist es natürlich auch für die deutsche Wirtschaft ganz entscheidend, diesen Zugang ohne Zölle und ohne mengenmäßige Beschränkungen zu behalten. Insofern, ich glaube, das ist gut. Und ich will eines auch noch sagen, wir haben es ja eben im Bericht des Korrespondenten gehört: Wenn es gelingt, dass die britische Jugend weiter teilnehmen kann am Studentenaustauschprogramm Erasmus plus, dann ist das ja eine Investition in die Zukunft. Das Abkommen enthält viel mehr als den reinen Handel, es enthält eben auch Dinge, die für die Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals von großer Bedeutung sind. Ich begrüße das außerordentlich, weil wir wollen gute Beziehungen zu Großbritannien und keine Konfrontation, so wie es in den letzten Jahren manchmal den Anschein hatte.

Frage: Welche Regeln benötigt der Wettbewerb zwischen EU und Großbritannien?

Lambsdorff: Ja, das ist in meinen Augen eigentlich der umfangreichere und schwierigere Teil. Das, was die Briten Level Playing Field nennen und was auch die Kommission Level Playing Field nennt, also ein Spielfeld, auf dem gleiche Bedingungen für alle sind, das ist ja das, was wir in der Europäischen Union im Wege der gepoolten Souveränität gemeinsam entscheiden. Ob das jetzt die Arbeitszeit ist, ob es Tierschutzvorschriften sind, ob es der Umgang mit Chemikalien ist oder Produktsicherheit ganz allgemein. Das sind Dinge, da müssen wir sehr darauf achten, dass Großbritannien sich an fairen Wettbewerb hält. Und ich bin sicher, und das würde ich auch erwarten, dass Michel Barnier einen Sicherungsmechanismus in den Vertrag hineinverhandelt hat, dass wenn Großbritannien anfängt, Standards zu unterlaufen, die wir in Europa erwarten, dass man dann doch einen, wie soll man sagen, Sicherungsmechanismus hat, mit dem dann Zölle verhängt werden können oder mengenmäßige Beschränkungen. Das sind übliche Dinge, die in Handelsabkommen drinstehen. Und das muss auch in einem Abkommen mit dem Drittstaat Großbritannien dann so drinstehen.

Frage: Das sind immer die Befürchtungen, aber das Vereinigte Königreich steht zum Beispiel bei den CO2-Zielen besser da als Deutschland. Wieso sollte ein unabhängiges Großbritannien nicht auch hohe Sozial- oder Umweltstandards einhalten?

Lambsdorff: Na ja, ich gehe davon aus, dass Großbritannien diese Standards einhält, weil es den Marktzugang zur Europäischen Union behalten will. Aber vergessen wir bitte nicht, vor ein, zwei Jahren gab es mal die Idee der konservativen Partei in Großbritannien, ein Singapur in der Nordsee zu schaffen, also Arbeitsschutzstandards zu senken, Umweltstandards zu senken, Staatsbeihilfen, also Subventionen nach Gutdünken zu machen, also Wettbewerbsverzerrung mit als Geschäftsmodell zu entwickeln. Das ist etwas, wo wir natürlich unsere Unternehmen vor schützen müssen. Ich sage das ganz deutlich auch als Liberaler, wir wollen Freihandel, aber wir wollen einen Freihandel, bei dem alle Unternehmen zu fairen Bedingungen miteinander im Wettbewerb stehen. Es kann eben nicht sein, dass Großbritannien mit diesem riesigen Handelsvolumen, das wir haben mit dem Land, hier unsere Standards unterläuft, um sich dadurch unfaire Wettbewerbsvorteile gegenüber unseren Unternehmen zu verschaffen.

Frage: Graf Lambsdorff, ist Global Britain, ein unabhängiges, weltweit operierendes Vereinigtes Königreich schon erkennbar?

Lambsdorff: Noch ist Global Britain nicht erkennbar, das hat mehrere Gründe. Das eine ist, dass natürlich die wichtigste Handelsbeziehung für Großbritannien die mit der Europäischen Union ist, auch wenn Boris Johnson immer versucht, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Mit dem Brexit-Abkommen, wenn es denn zustande kommt, wäre eine Chance für Großbritannien, sich dann auch anderen Handelspartnern zuzuwenden und den Versuch zu machen, eine Global-Britain-Agenda zu verfolgen. Aber ohne ein Brexit-Abkommen wäre Global Britain ohnehin eine Schimäre. Und vergessen wir eines nicht, das betrifft uns ja alle: Wir leben in Corona-Zeiten, also zurzeit sind viele politische Prozesse, auch solche, ein bisschen auf Eis gelegt. Man muss einfach abwarten, wie sich jetzt die Pandemie weiterentwickelt. Gerade Großbritannien ist ja durch die Reiseblockade der letzten Tage noch mal besonders hart getroffen.

Frage: Auch in diesem Zusammenhang gefragt: Wie schätzen Sie den innenpolitischen Druck ein, unter dem Boris Johnson steht?

Lambsdorff: Das wird interessant sein, zu sehen. Ich habe heute Morgen mal ein bisschen die britischen Zeitungstitelseiten mir angeschaut. Die Pro-Brexit-Blätter feiern Boris Johnson als Weihnachtsmann, der jetzt sozusagen ein Abkommen durch den Schornstein in die Wohnzimmer der britischen Familien wirft. Ich glaube, das wird etwas Druck von ihm nehmen. Aber wenn die Details bekannt werden, könnte ich mir vorstellen, dass der ein oder andere sich schon die Augen reiben wird und fragen, was ist das eigentlich mit unserer Souveränität: Wir müssen den Europäern Zugang zu den Fischgründen weiterhin gewährleisten und wir müssen uns an die Wettbewerbsbedingungen halten, die auf dem europäischen Kontinent gelten. Also „take back control“, so platt und primitiv, wie das in der Kampagne für den Brexit kommuniziert wurde, das wird so eins zu eins ganz sicher nicht kommen. Und das wird bei dem ein oder anderen Hardliner dann auch zu Druck auf Johnson führen.

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