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Alexander Graf Lambsdorff
Pressemitteilung

LAMBSDORFF-Gastbeitrag: Ausgerechnet Corona brachte von der Leyen zurück ins Spiel

Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff schrieb für „t-online.de“ den folgenden Gastbeitrag:

Vor genau einem Jahr trat Ursula von der Leyen ihr Amt als neue Kommissionspräsidentin der Europäischen Union an. Der Start war holprig, denn im Widerspruch zu allen Ankündigungen, dass nur einer der Spitzenkandidaten aus der Europawahl die Kommission führen dürfen sollte, gelangte letztlich von der Leyen ins Amt.

Sie hatte auf keinem Wahlzettel gestanden, was ihren Start belastete, denn ihre Präsidentschaft ist demokratisch ein Rückschritt. Doch von der Leyen ließ sich davon nicht irritieren und machte sich sehr schnell auf zu ihrer ersten Dienstreise. Sie besuchte sehr bewusst zuerst die Afrikanische Union in Addis Abeba und rief die „geopolitische Kommission“ aus, eine Kommission, die Europas Interessen international mit Nachdruck vertreten werde.

Dagegen ist nichts zu sagen: Es ist überfällig, dass die EU Konzepte für eigene Handlungsfähigkeit in sicherheitssensiblen Fragen, bei kritischer Infrastruktur wie den 5G-Netzen und einem selbstbewussten Umgang mit China entwickelt. Denn klar ist: Auch die Wahl von Joe Biden wird nicht verändern, dass die Amerikaner ihren Blick verstärkt über den Pazifik richten. Gleichzeitig mehren sich Konflikte in Europas unmittelbarer Nachbarschaft und mit dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hat ein außenpolitisches Schwergewicht die Europäische Union verlassen.

Ich kenne Ursula von der Leyen und schätze ihren Tatendrang und ihre Ausdauer. Die Anlaufschwierigkeiten scheinen sie noch darin bestärkt zu haben, der Europäischen Union neue Impulse zu geben. Der Schwung, den die neue Präsidentin in viele Debatten brachte, Begriffe wie „Europas Mondfahrt-Moment“ und Ausrufe wie „Long live Europe“ – das ist ein merklicher Unterschied im Vergleich zu den Jahren zuvor. Als sie aber aus Afrika zurückkam, wurden schon die ersten Corona-Fälle in Europa registriert.

Und wie in unseren Städten und Ländern dominierte das Virus ab dem Frühjahr auch die Arbeit der EU. Ironischerweise war es gerade die Corona-Pandemie, die von der Leyen zurück ins Spiel brachte, denn in den Haushaltsverhandlungen konnte sie selbstbewusster auftreten. Die Pandemie betrifft schließlich ganz Europa und der Kauf von Impfdosen durch die EU vor wenigen Wochen – weltweit vielbeachtet und gelobt – ist ein Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins.

Doch das Bild ist nicht ungetrübt. Der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) und der Corona-Wiederaufbaufonds (NGEU) hätten die europäische Handlungsfähigkeit stärken können, denn die Größe des Haushalts ist stark gewachsen. Schlimm ist allerdings, dass die Mitgliedstaaten einmal mehr ihre eigenen Interessen über die Europas gestellt haben. In der Agrarpolitik gibt es kaum Fortschritte hin zu moderneren Ansätzen, Digitalisierung und Forschung sind auch weiterhin unterfinanziert. Europäischer ist der Haushalt auch nicht geworden: Gerade am Beispiel von NGEU sieht man, wie sich die Mitgliedstaaten in den Verhandlungen lieber selbst bedient haben, als etwa für europäische Gesundheitsinitiativen oder Forschungsprojekte die notwendigen Mittel bereitzustellen.

Das ist aber kein Versäumnis der EU-Kommission oder ihrer Präsidentin, die mit ihrem ursprünglichen Konzept eine gute Verteilung zwischen Unionsebene und Mitgliedstaaten vorgeschlagen hatte. Es ist ein Versagen der Bundesregierung und ihrer Ratspräsidentschaft, die sich ein ums andere Mal zulasten echten europapolitischen Fortschritts entschieden hat.

International erhöht die Kommission die Sichtbarkeit der Europäischen Union in der Welt. Die liberale Kommissarin Margrethe Vestager etwa wurde selbst von Donald Trump gefürchtet, der ihren konsequenten wie erfolgreichen Einsatz für fairen Wettbewerb fürchtete. Phil Hogan schloss als Handelskommissar bis zu seinem Abtritt verschiedene Freihandelsabkommen ab, die dem Handel und damit der wirtschaftlichen Entwicklung der Union in einer protektionistischen Ära Schub verleihen können.

Bei allem Lob ist allerdings die Industriepolitik von der Leyens unverständlich. Die jetzt angedrohte Ausgestaltung der Euro-7-Norm etwa würde faktisch ein Verbot des Verbrennungsmotors ab 2025 bedeuten. Modernste Autos mit Verbrennungsmotor, die eine bessere CO2-Bilanz aufweisen als viele Elektrofahrzeuge, dürften dann nicht mehr gebaut werden. Ein solcher Schlag gerade gegen die deutsche Automobilindustrie ist schon im Interesse des Klimaschutzes falsch: Eine Ausweitung des Emissionshandels, der dazu führt, dass Unternehmen die effektivsten klimaschützenden Maßnahmen ergreifen, würde einen wesentlich höheren Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel bedeuten.

Auch politisch ist er überflüssig, denn dahinter steht die Ideologie der Grünen, die individuelle Mobilität der Bürgerinnen und Bürger ganz allgemein einschränken wollen und dafür in Kauf nehmen, den Industriestandort Europa abzuwickeln. Doch von der Leyen ist auf die Grünen nicht angewiesen: Es gibt keinen einzigen Regierungschef der Grünen irgendwo in Europa, nur solche der Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Und diese drei Parteienfamilien stellen mit ihren Fraktionen auch die Mehrheit im Europaparlament.

So setzt sich nach den Wirrungen des Amtsantritts und der Pandemie immer mehr ein Bild zusammen. Das Bild einer Kommission nämlich, die ins Rollen kommt, an vielen Stellen Schritte in die richtige Richtung unternommen hat, aber in der Wirtschaftspolitik falsch abgebogen ist. Wenn Ursula von der Leyen hier keine Kurskorrektur vornimmt, droht ihr guter Start in einer Sackgasse aus Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen zu enden.

In Frankreich hat eine solche Politik zu den landesweiten Protesten der Gelbwesten geführt. Das aber sollten weder Ursula von der Leyen noch ihre Kommissare riskieren. Europa muss sich dadurch auszeichnen, dass es seine starke Industrie mit Millionen von Arbeitsplätzen im Kampf gegen die Klimaerwärmung nicht über Bord wirft, sondern Unternehmen wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesem anspruchsvollen Weg mitnimmt. Nur wenn ihr das gelingt, wird man im Rückblick sagen, dass Ursula von der Leyen eine gute Kommissionspräsidentin war.

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