KUBICKI-Interview: Die AfD wird sich weiter radikalisieren
Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki gab der „Welt am Sonntag“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Martin Niewendick und Jacques Schuster:
Frage: Herr Kubicki, Anfang April scheiterte mal wieder der Reformversuch, den aufgeblähten Bundestag zu verkleinern. Wer ist verantwortlich für dieses Scheitern?
Kubicki: Es gibt eine Lösung, getragen von SPD, FDP, den Linken und Grünen, die eine Mehrheit im Hause finden könnte. Danach würden die Wahlkreise auf 240 reduziert und der Rest nach dem Verhältniswahlrecht ausgeglichen werden. Das würde dazu führen, dass die Zahl der Abgeordneten bei 598 läge und nicht mehr bei über 700 wie heute. Dieser Vorschlag scheiterte an der Union. Wolfgang Schäuble will die Zahl der Wahlkreise bei 270 belassen und bis zu 15 Überhangmandate nicht ausgleichen. Sein Vorschlag würde dazu führen, dass die Union etwa zehn Prozent mehr Abgeordnete besäße, als ihr nach den Stimmen zustünde. Das ist mit den anderen Fraktionen nicht zu machen.
Frage: Ist der Bundestagspräsident in dieser Frage zu sehr Parteipolitiker?
Kubicki: In dieser konkreten Frage hat er jedenfalls die Interessen seiner Partei sehr gut im Blick. Bleibt es bei dieser Position der Union, werden wir nicht vorankommen.
Frage: Sie haben immer wieder dafür plädiert, die AfD in keine Opferrolle zu drängen. Ist das nicht geschehen, als die AfD erneut mit ihrem Kandidatin für den Posten des Bundestagsvizepräsidenten durchfiel?
Kubicki: Die AfD hat diese Niederlage bewusst provoziert. Wer wenige Tage vor der Abstimmung droht, was alles geschähe, wenn die eigene Kandidatin durchfiele, der muss sich nicht wundern, wenn sich einige Abgeordnete diese Frechheit nicht gefallen lassen. Im Übrigen wissen wir recht konkret, dass auch eine Reihe von AfD-Abgeordneten nicht für Frau Harder-Kühnel gestimmt hat.
Frage: Aus welchem Grund?
Kubicki: Die AfD-Fraktion kündigte an, sie würde einen neuen Kandidaten benennen, wenn Frau Harder-Kühnel nicht gewählt werde. So haben einige AfD-Abgeordnete gegen sie gestimmt, weil sie hofften, dann selbst diesen Posten zu ergattern. Zudem ist die AfD in sich gespalten. Mit der Rolle „Wir gegen den Rest der Welt“ hält sich die Truppe zusammen. Nach fast 30 Jahren im Parlament weiß ich: Das parlamentarische System wird sie über kurz oder lang domestizieren und schließlich auffressen.
Frage: Zieht man das Völkische bei der AfD ab, muss man dann nicht sagen, dass allein die Wahl der AfD in den Bundestag zu einem lebhafteren Parlamentarismus geführt hat?
Kubicki: Finden Sie? Ich sehe das nicht.
Frage: Hat die AfD dafür gesorgt, dass Themen angesprochen werden, die in der vergangenen Legislaturperiode unter der großen Koalition eher ungern behandelt wurden?
Kubicki: Damals vertraten die Fraktionen der großen Koalition 80 Prozent der im Bundestag zu vergebenen Mandate. Unter diesen Umständen darf man sich nicht wundern, dass die Regierungsfraktionen auch 80 Prozent der Redezeit erhielten. Zum Glück ist das vorbei. Aber ich bestreite, dass heute Themen angesprochen werden, die früher totgeschwiegen worden wären. Durch die AfD werden sie heute allenfalls in niederträchtiger Absicht angesprochen.
Frage: Inwiefern?
Kubicki: Selbst wenn der Bundestag über das schwarze Loch debattieren würde, würden die AfD-Redner es versuchen, den Zugezogenen die Schuld am schwarzen Loch zuzuschieben. So läuft das mit dieser Fraktion.
Frage: Kann die AfD eine normale konservative Partei werden?
Kubicki: Sie wird sich weiter radikalisieren. Zu mir kommen immer wieder AfD-Kollegen, die erzählen, dass ihre Basis sie angeht, weil sie zu wenig Randale im Bundestag machen. Viele in der AfD glauben, sie könnten nur als rechte Tabubrecher überleben. Ein Irrtum, der sie mittelfristig aus dem Bundestag fegen wird.
Frage: Die AfD steckt in einer Spendenaffäre. Bisher hat man von den anderen Fraktionen wenig zu dieser Krise gehört. Müsste man nicht politisch härter mit diesen selbst ernannten Saubermännern und -frauen umgehen?
Kubicki: Die Bundestagsverwaltung hat jetzt ja eine ordentliche Strafe verhängt. Ich denke auch, dass dies dazu führt, dass die Fliehkräfte innerhalb der Partei und Fraktion nun automatisch größer werden. Und was die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft betrifft, wissen wir zur Stunde noch zu wenig. Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass das Geld für Frau Weidel und Herrn Meuthen über Italien aus Russland gekommen ist, wird die AfD ein riesiges Problem bekommen. Dann werden alle Parteien zu Recht über sie herfallen.
Frage: Schauen wir auf die Debatten des vergangenen Jahrzehnts, nehmen wir eine neue Unerbittlichkeit wahr – nach dem Motto: „Und willst du nicht mein Bruder sein, schlage ich dir den Schädel ein.“ Teilen Sie diese Ansicht?
Kubicki: Das ist in der Tat so, weil wir nicht mehr zwischen Argumenten und der Moral unterscheiden. Nehmen Sie die Diskussion über Dieselmotoren. Lehne ich es beispielsweise ab, den Diesel aus dem Verkehr zu ziehen, bin ich plötzlich derjenige, der Tod von Menschen in Kauf nimmt – und das obwohl nun die Wissenschaftler der Leopoldina-Akademie dazu raten, die Anstrengungen zur Luftreinhaltung auf die Feinstaubreduktion zu konzentrieren. Rationales Argumentieren wird immer schwieriger.
Frage: Wie erklären Sie das Moralisieren?
Kubicki: Es hat damit zu tun, dass die Komplexität der Themen zunimmt. Und wenn ich moralisch argumentiere, muss ich mich nicht mit den Details beschäftigen. Hinzu kommt eine Sakralisierung der Politik, wofür vor allem die Grünen stehen.
Frage: Was heißt das?
Kubicki: Ich formuliere es einmal spitz: Die Grünen nutzen einen uralten christlichen Mechanismus. Sie beschreiben uns die Hölle, in die jeder kommt, wenn er ihre Gebote missachtet. Gleichzeitig weisen sie uns den Weg ins Himmelreich, wenn man ihrer Politik folgt. Sie verkünden uns den Klimatod und zeigen uns die Rettung auf, die in der Befolgung ihrer Klimapolitik liegt. Alles Quatsch, aber wirkungsvoll.
Frage: Neulich trafen sich Ihr Parteivorsitzender mit der SPD-Chefin Nahles zu einer demonstrativen Suche nach Gemeinsamkeiten. Abgesehen davon, dass es für beide Parteien nicht im entferntesten für eine Regierungsbildung reicht, so ist die FDP von der Nahles-Partei viel weiter entfernt als je zuvor in den letzten 20 Jahren. Oder sehen wir das falsch?
Kubicki: Zum Glück steht die Nahles-SPD nicht für die ganze SPD. Sonst käme sie nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Doch grundsätzlich hat die sozialliberale Perspektive nach wie vor Charme: Wenn die SPD in dem Umbruch, den die Globalisierung und die nächste technische Revolution gebracht haben, garantiert, dass kein Mensch durch den Rost fällt, und wir von der FDP garantieren, dass die Wirtschaft funktioniert, dann wäre ein sozialliberales Bündnis eine ernst zu nehmende Option, sollten die Wahlergebnisse eine solche Koalition ermöglichen. Für mich war die beste Zeit für gesellschaftlichen Fortschritt die Jahre zwischen 1969 und 1982. Wenn es die sozialliberale Koalition unter Brandt/Scheel bzw. Schmidt/Genscher nicht gegeben hätte, wäre die bundesdeutsche Gesellschaft nicht da, wo sie heute steht.
Frage: Warum werden die Grünen heute deutlicher wahrgenommen als die FDP?
Kubicki: Den Grünen ist es gelungen, der SPD einen Teil ihrer Wähler abspenstig zu machen. Und der AfD ist es gelungen, in Ostdeutschland der Linkspartei und der CDU einen Teil ihrer Wähler zu nehmen. Die FDP lebt aus sich selbst heraus. Ich erwarte schon bald den Tag, an dem Robert Habeck in der Öffentlichkeit erklären muss, aus welchem Grund seine Partei nicht das Wahlergebnis erzielte, das die Umfragen verhießen.
Frage: Welche Akzente sollte die FDP deutlicher als bisher setzen?
Kubicki: Die Frage ist vielmehr, welche Themen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Gegenwärtig ist das die Klima- und Umweltthematik – und das in einer moralisch aufgeladenen Weise, die nichts mit der Realität zu tun hat.
Frage: Wie meinen Sie das?
Kubicki: Wenn wir den Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung folgten und im Jahr 2030 alle Kohlekraftwerke abschalteten, würde unsere Wirtschaft und Gesellschaft von einem auf den anderen Tag kollabieren. Wer kann das wollen? Ich denke, die Dominanz dieses Themas wird schwächer werden. Mehr und mehr Menschen werden sich ernsthaft fragen: Will ich wirklich nicht mehr in den Urlaub fliegen, weil die Grünen das öffentlich anprangern? Vor allem aber werden der Brexit und der Konjunktureinbruch, der brutaler wird, als wir gegenwärtig glauben, zu einem Stimmungsumschwung führen. Dann wird es darum gehen, wie wir unsere Wirtschaft stabilisieren und zukunftssicher gestalten.
Frage: Ende März forderten Sie die Regierung auf, US-Botschafter Richard Grenell zur unerwünschten Person zu erklären. Bleiben Sie bei dieser Forderung?
Kubicki: Mein Vorstoß war sicher pointiert. Aber es sollte unseren schlafenden Riesen, Bundesaußenminister Heiko Maas, dazu bewegen, endlich einmal etwas zu unternehmen und auch die Amerikaner darauf hinzuweisen, dass auch für sie das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen gilt. Artikel 41 dieser Übereinkunft untersagt es, dass sich ein Botschafter in die inneren Angelegenheiten eines Staates einmischt, in dem er Missionsträger ist. Es wäre aus rechtsstaatlichen Erwägungen das Mindeste gewesen, wenn Maas Grenell offiziell einbestellt hätte.
Frage: Wieso verstößt der Botschafter gegen die Wiener Übereinkunft, wenn er die Deutschen daran erinnert, dass sie Versprechen brechen, wie zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung auszugeben?
Kubicki: Weil es eine innenpolitische Angelegenheit ist, wie der Bundestag seinen Haushalt aufstellt. Im Übrigen ergibt das Zwei-Prozent-Ziel keinen Sinn.
Frage: Zählen Versprechen nichts mehr?
Kubicki: Die Bundesregierung hätte ein solches Versprechen gar nicht abgeben dürfen. Das wäre Sache des Deutschen Bundestages gewesen. Der hat das Budgetrecht.
Frage: Ist Bündnistreue für Sie kein Wert?
Kubicki: Solange wir nicht wissen, wofür die Bundeswehr stehen soll, was ihr Daseinszweck ist, so lange ist ein festes Zwei-Prozent-Ziel Quatsch. Aber wenn wir weiter an der Gorch Fock bauen und noch ein paar Regierungsflieger bestellen, haben wir die zwei Prozent bald vielleicht auch so erreicht.