KUBICKI-Gastbeitrag: Mehr Demokratie wagen
Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki schrieb für die „Welt“ (Freitagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Jüngst jährte sich die berühmte erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt zum 50. Mal. Wer sich dieses wunderbare Dokument der Zeitgeschichte heute noch einmal durchliest, muss sich am Ende unweigerlich die Frage stellen: Was ist eigentlich im letzten halben Jahrhundert schiefgegangen, dass wir unsere demokratische Grundordnung nicht mehr als Hauptgewinn betrachten? Leider bekomme ich den Eindruck, dass wir das Wagnis Demokratie immer weniger einzugehen bereit sind, so nachlässig und stiefmütterlich, wie wir heute mit ihr umgehen.
Es tröstet nicht, dass Deutschland in dieser Frage nicht allein in der Welt steht. Überall sprießen antiliberale und antidemokratische Kräfte empor, die unsere bisherige Vorstellung untergraben, die Demokratie sei die überlegene, weil humanste Form der Herrschaftsausübung. Mit Blick auf demokratisch gewählte Staatenlenker wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Victor Orbán, die sich gleichsam demokratieverächtlich zeigen, ist die bittere und aufrüttelnde Erkenntnis der vergangenen Jahre, dass sich die freiheitliche Demokratie offenbar nicht aus sich selbst heraus als überlegen rechtfertigt. Demokratie muss immer vorgelebt, sie muss immer wieder eingeübt werden. Haben wir also unsere Übung verloren? Oder haben wir keine leuchtenden Demokraten mehr, die in einer regelbasierten Debatte kraft ihrer Argumente mitreißend für die bessere Lösung werben?
Im NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017 haben die obersten deutschen Richter den demokratischen Grundgedanken trefflich zusammengefasst: „Das Grundgesetz geht davon aus, dass nur die ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den sie vertretenden Parteien der richtige Weg zur Bildung des Staatswillens ist. Es vertraut auf die Kraft dieser Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“
Die Bildung des Staatswillens vollzieht sich also im gemeinsamen Prozess. Auch wenn es die AfD bisweilen für sich reklamiert, gilt: Keine politische Gruppierung kann für sich, in Anspruch nehmen, allein für das Volk zu sprechen. Zugleich heißt das auch, dass jede politische Kraft das Recht und vor allem die Pflicht hat, ihren Teil zur Bildung des Staatswillens beizutragen. Dass eine Partei wie die AfD ihre Pflicht sehr häufig verletzt, wenn sie dieses Prinzip unterläuft und Organe des Staates innerhalb wie außerhalb des Parlaments verächtlich macht, darf jedoch nicht dazu führen, dass alle anderen Kräfte dieser Partei das Recht zur Beteiligung an der demokratischen Debatte grundsätzlich absprechen. Geschieht dies dauerhaft, forcieren wir selbst eine gesellschaftliche Spaltung. Denn dann werden diejenigen, die ihre Stimme dieser Partei zur Vertretung ihrer Interessen gegeben haben, in der politischen Debatte nicht mehr gehört.
Es ist ein verstörender Zug der Zeit, dass sich derjenige, der sich für die Einhaltung der demokratischen Usancen starkmacht, vor allem im Netz allzu häufig übelsten Beschimpfungen ausgesetzt sieht. Sofern sich die Pöbler im weiten Rahmen der Meinungsfreiheit bewegen, muss man das jedoch ertragen. Ich finde es allerdings erschreckend, wie häufig man in die wirklich unangenehme Situation kommt, die demokratischen Rechte der Rechtspopulisten verteidigen zu müssen. Denn viele politische Mitbewerber machen selbst vor Regelbrüchen nicht halt, wenn es gegen „rechts“ geht. Dann gelten offenbar andere Maßstäbe. Dass dies unserer freien und offenen Debattenkultur schadet, wird entweder nicht erkannt oder – schlimmer noch – billigend in Kauf genommen. Das Motto lautet dann „Moral schlägt Recht“. Als Demokrat will ich das nicht akzeptieren.
Ein paar Beispiele: Im Februar 2016 verabschiedete der Landtag von Schleswig-Holstein mit den Stimmen der damaligen Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) eine Resolution gegen rechten Populismus. Hierin hieß es, der Landtag „stellt sich den neuen rechten Parteien wie der AfD entschlossen entgegen und sucht die politische Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit“. Was für die meisten zunächst einmal harmlos klingen mag, ist aus rechtsstaatlichen Gründen mindestens zweifelhaft. Denn dass das Legislativorgan Landtag dazu genutzt wurde, eine missliebige Partei auszugrenzen, hat eine besondere Dimension. Der Landtag – und nicht die Wählerinnen und Wähler – sollte also entscheiden, ob die AfD ein gutes oder schlechtes politisches Angebot macht. Hiermit erhoben Ralf Stegner und seine Leidensgenossen das moralische Mehrheitsprinzip über das Rechtsstaatsprinzip. Beteiligt waren interessanterweise ausgerechnet Parteien, die sich normalerweise für Minderheitenrechte starkmachen. Die Frage stellt sich: Was passiert eigentlich, wenn es andere moralische Mehrheiten geben sollte?
Nächstes Beispiel: Nach dem schrecklichen rechtsterroristischen Anschlag in Halle überschlugen sich die politischen Stimmen mit Forderungen, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nun auf die AfD zu reagieren habe. Von Alexander Dobrindt (CSU) bis Lars Klingbeil (SPD) war man sich einig, dass die AfD jetzt unter behördliche Beobachtung gestellt werden müsse. Diese Forderung ist deshalb sowohl wirkungslos als auch gefährlich, weil eine entsprechende Beobachtung von Parteien an strenge Regularien gebunden ist und nicht dem politischen Willen unterliegt. Eine solche Aufforderung ist deshalb populistisch. Wenn in der politischen Auseinandersetzung der Eindruck vermittelt wird, diese Regeln könnten beliebig vom politischen Willen überwunden werden, dann bekommen wir ein grundsätzliches Problem. Mit der Illusion, Regelbrüche seien erlaubt, solange es gegen die Bösen geht, befördern politische Kräfte tatsächlich einen massiven Vertrauensverlust der Menschen in die Lauterkeit behördlichen Handelns.
Das letzte Beispiel: Es gehört gewissermaßen schon zum traurigen Klassiker behördlicher Verweigerungshaltung, dass Parteitage von nicht verbotenen Parteien in öffentlichen Gebäuden untersagt werden. In relativer Regelmäßigkeit müssen Gerichte daher immer wieder feststellen, dass auch rechtsextreme, ja sogar verfassungsfeindliche Parteien das Recht zur Nutzung dieser Räumlichkeiten haben, wenn dies auch den anderen Parteien zugestanden wird. Ein Fall aus Wetzlar aus dem vergangenen Jahr zieht jedoch jedem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, die Schuhe aus. Trotz eines letztinstanzlichen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes überließ die Stadt Wetzlar der NPD die dortige Stadthalle nicht. Man muss die NPD nicht mögen – dankenswerterweise tun dies die allermeisten Menschen auch nicht –, trotzdem ist das kein Grund, die Gewaltenteilung zu ignorieren. Wenn sich Behörden nur noch an Recht und Gesetz halten, wenn es ihnen selbst als richtig erscheint, können wir uns unsere Rechtsordnung und unsere Gerichte sparen. Dann entscheidet die angebliche Moral und am Ende auch die Willkür. Was das dann im Übrigen für Minderheitenrechte im Allgemeinen bedeuten könnte, kann man sich ausmalen.
Es ist ein Hasenmut, der aus einer solchen Motivlage springt. Tatsächlich ist es nicht mutig, billigen Applaus für Regelbrüche, ja für Selbstjustiz zu erheischen – nur, weil es gegen „rechts“ geht und man sich moralisch im Recht sieht. Willy Brandts Worte hallen auch 50 Jahre später nach: „Wir müssen mehr Demokratie wagen.“ Noch heute ist es ein Wagnis, sich für mehr Demokratie einzusetzen.
Und es erfordert Stärke, in heutiger Zeit Demokrat zu sein. Nicht nur, weil unter anderem in der AfD ausgewiesene Antidemokraten am Werk sind. Sondern auch, weil nicht wenige aus der politischen Mitte aus vermeintlich höheren Motiven gleichzeitig an der Dekonstruktion der Demokratie und ihrer Organe mitarbeiten.
Ein Demokrat achtet die demokratischen Regeln und Institutionen und verteidigt sie gegen jedermann – die Meinungsfreiheit zum Beispiel auch und gerade dann, wenn die Meinung abstoßend, widerlich oder eklig ist, sich dabei aber im Rahmen der Gesetze bewegt. Er sieht im Gegenüber zuerst einen Menschen, der nach Artikel 1 unserer Verfassung eine achtens- und schützenswerte Würde hat. Die demokratische Debatte in einem freiheitlichen Rechtsstaat ist niemals nur schwarz und weiß. Sie ist bunt. Alle Demokraten müssen im Sinne der Freiheit dafür sorgen, dass es so bleibt.