DÜRR-Interview: Epidemische Lage der alten Koalition war kein wirksames Schwert
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab „n-tv“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Hubertus Volmer:
Frage: FDP-Chef Christian Lindner hat noch vor wenigen Monaten eine „politische Garantie“ gefordert, „dass ein neuer Lockdown ausgeschlossen wird“. Wie unsanft war das Aufwachen in Regierungsverantwortung für die FDP?
Dürr: Nach wie vor gilt es, einen Lockdown zu verhindern. Aber anders als vor einem Jahr haben wir jetzt keine flächendeckenden Schulschließungen. Wir haben keine Schließung des Einzelhandels, und es gibt keine Ausgangssperren. Wenn man sich anhört, was Markus Söder in den letzten Wochen gefordert hat, dann glaube ich, wir haben die Verantwortung zum richtigen Zeitpunkt übernommen. Verantwortung ist nicht immer mit angenehmen Entscheidungen verbunden. Aber das gehört dazu.
Frage: Wird es bis Silvester oder im Januar einen Lockdown geben?
Dürr: In dieser Pandemie und in einer so dynamischen Lage kann man schwer etwas ausschließen, aber nun hat die Bund-Länder-Runde entschieden, dass es jetzt keinen Lockdown geben wird. Ich halte das für richtig. Wir müssen vor allen Dingen wirksame Instrumente einsetzen. Dafür haben wir mit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes gesorgt. Bei den Ausgangssperren vor einem Jahr etwa war es verboten, mit dem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin abends gemeinsam spazieren zu gehen – obwohl man danach zusammen ins gemeinsame Schlafzimmer gegangen ist. Das hat niemand verstanden. Deswegen waren die Maßnahmen auch schlecht, denn Menschen halten sich nicht an Regeln, deren Sinn sie nicht verstehen.
Frage: Vor der Bundestagswahl hat die FDP 2G-Regeln kritisiert, weil damit „so etwas wie eine indirekte Impfpflicht“ verbunden sei, wie Lindner sagte, „und eine solche lehnen wir ab“. Mittlerweile ist Lindner für eine Impfpflicht, Sie selbst sind noch unschlüssig. Kann es sein, dass Liberalismus in der Opposition besser funktioniert als in einer Regierung unter Pandemiebedingungen?
Dürr: Nein. Die 2G-Regelungen gehören zu den Maßnahmen, die die Länder in Kraft setzen können, wenn es geboten ist. Wir sehen am jüngsten Urteil in Niedersachsen, dass es in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Situationen geben kann: Was in Bayern sinnvoll ist, ist in Niedersachsen vielleicht nicht notwendig. Und das, was wir über das Infektionsschutzgesetz bundesweit eingeführt haben – 3G am Arbeitsplatz und im ÖPNV, die Testpflicht in Pflegeheimen –, zielt darauf, dass möglichst alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, aber eben sicher. Anders als Markus Söder setzen wir auf wirksame Maßnahmen statt auf die große Schlagzeile. Zumindest Stand jetzt in der vierten Welle können wir sagen, dass die gezielteren Maßnahmen sinnvoll waren – auch wenn Omikron noch einmal eine andere Herausforderung wird.
Frage: Die Union hat scharf kritisiert, dass die Ampelkoalition die epidemische Lage nicht verlängert hat. Ist vorstellbar, dass der Bundestag die epidemische Lage doch noch feststellt?
Dürr: Wie gesagt: Es ist schwierig, bei Corona irgendetwas apodiktisch auszuschließen. Die epidemische Lage der alten Koalition war kein wirksames Schwert. Die vierte Welle kam trotz, vielleicht sogar wegen der epidemischen Lage. Denn die bot zwar viele Instrumente, aber sie waren nicht alle wirksam. Teilweise waren sie rechtswidrig, teilweise haben sie nicht funktioniert. Wir haben weniger Instrumente vorgesehen, die von den Bundesländern gezielter eingesetzt werden können.
Frage: Ihr Parteivize Wolfgang Kubicki sagte, vielen Impfpflichtbefürwortern scheine es „um Rache und Vergeltung zu gehen“. Wie wollen Sie angesichts eines solchen Tonfalls sicherstellen, dass die Debatte um die Impfpflicht in Ihrer Fraktion fair geführt wird?
Dürr: Ich persönlich kenne niemanden, der die Impfpflicht aus einem Gefühl der Rache befürwortet, aber Wolfgang Kubicki hat ja auch deutlich gemacht, dass er den Meinungspluralismus in der FDP und im Bundestag sehr befürwortet und kein Problem damit hat, wenn Menschen "bei gleicher Datenlage auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen". Wir werden in dieser Frage keine Debatten entlang von Fraktionsgrenzen führen. Es wird im kommenden Jahr Abgeordnete in jeder Fraktion geben, die für eine allgemeine Impfpflicht sind, und solche, die sie ablehnen. Das ist eine medizinethische Frage und damit eine Gewissensfrage. Was mir noch wichtig ist: Zum jetzigen Zeitpunkt kommt die Debatte verfrüht, denn zurzeit haben wir eine hohe Impfbereitschaft. Jetzt geht es vor allem darum, zu organisieren, dass genug Impfstoff und ausreichend Kapazitäten da sind. Beides haben wir getan: Wir haben den Personenkreis derer ausgeweitet, die impfen dürfen, und Christian Lindner hat gemeinsam mit Karl Lauterbach dafür gesorgt, dass genug Geld bereitsteht, um im kommenden Jahr weitere Dosen zu kaufen.
Frage: Sie tragen die Beschlüsse der MPK vom Dienstag mit, obwohl sie Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte vorsehen?
Dürr: Wenn diese Maßnahme wirksam ist, dann ja. Auch jetzt gibt es schon Kontaktbeschränkungen, das ist kein neues Instrument. Neu war die Position des Expertenrats, der davon ausgeht, dass vor dem Hintergrund der Omikron-Variante weitere Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte notwendig sind. Was am Dienstag beschlossen wurde, ist etwas anderes als ein Lockdown, es ist etwas anderes als Schulschließungen, die Schließung des Einzelhandels oder Ausgangssperren.
Frage: Regulär kommt der Bundestag erst Mitte Januar wieder zu einer Sitzung zusammen. Wird es vorher eine Sondersitzung geben?
Dürr: Das ist derzeit nicht abzusehen. Klar ist: Der Bundestag hat in den letzten Monaten seine Handlungsfähigkeit bewiesen. Wir hatten am Anfang der Pandemie die Situation, dass der Bundestag selten beteiligt war. Stattdessen haben die Ministerpräsidenten ihre Beschlüsse hinter verschlossenen Türen gefällt – das war nicht immer sinnvoll und ging nicht immer schnell. Die Gesetze, die er selbst gemacht hat, hat der Bundestag teilweise innerhalb von einer Woche durchgebracht. Wenn nötig, ist das Parlament jederzeit handlungsfähig.
Frage: Was halten Sie als Liberaler eigentlich vom Verkaufsverbot für Böller?
Dürr: Mir fällt es schwer, zu interpretieren, ob das dem Infektionsschutz dient. Es ist eine Entscheidung der Länder, die ich respektiere.
Frage: Wie will die Koalition das Problem der gefälschten Impfpässe in den Griff bekommen? Apotheker, die eine Fälschung entdecken, fühlen sich entweder an eine Schweigepflicht gebunden – oder sie haben Angst, den Fälscher anzuzeigen.
Dürr: Wenn Straftaten begangen werden, dann muss man sie verfolgen. Am besten wäre es, Impfpässe technologisch so sicher zu machen, dass eine Fälschung nicht möglich ist. Im Zweifelsfall müssen wir da noch besser werden. Das sind ja sozusagen Erblasten der alten Bundesregierung, die jetzt sukzessive aufgearbeitet werden. Ich bin mir sicher, dass der Bundesgesundheitsminister da dran ist.
Frage: Die Unionsfraktion will in Karlsruhe gegen den von Bundesfinanzminister Lindner geplanten Nachtragshaushalt klagen. Können Sie bestreiten, dass Sie das auch tun würden, wären die Rollen andersrum und Sie noch in der Opposition?
Dürr: Ja, das bestreite ich. Die Situation ist eine ganz andere.
Frage: Der künftige CDU-Chef Friedrich Merz sagt, Ihre Haushaltspolitik sei „das glatte Gegenteil von dem, was die FDP noch vor wenigen Wochen fest versprochen hat“.
Dürr: Was die Union gerade macht, ist kurios, fast schon lächerlich. Sie hat 2020 einen Nachtragshaushalt beschlossen und dabei zusätzliche Schulden aufgenommen. Wir haben das nicht getan. Wir sind im Schuldenrahmen geblieben, den die Große Koalition mit den Stimmen der Union beschlossen hat. Wenn die Union dagegen klagen will, dann müsste sie konsequenterweise auch gegen ihren eigenen Nachtragshaushalt klagen. Das Ganze scheint mir eher ein politisches Täuschungsmanöver zu sein. Übrigens ist das Ziel ja, die Neuverschuldung des Bundes im kommenden Jahr geringer ausfallen zu lassen als in diesem Jahr. 2023 wollen wir die Schuldenbremse wieder einhalten und die Haushaltsnotlage beenden. Darauf war die Politik der Union in der vergangenen Wahlperiode nicht ausgerichtet.
Frage: Man kann davon ausgehen, dass Friedrich Merz eine gewisse Anziehungskraft auf FDP-Anhänger hat. Wie wollen Sie verhindern, dass wirtschaftsliberale Wähler seinetwegen zur CDU gehen?
Dürr: Ich glaube nicht, dass Friedrich Merz einen liberalen Kurs fahren wird. Was ich bisher höre, ist stramm konservativ und eher auf die 1990er Jahre ausgerichtet. Und ich glaube nicht, dass man mit den Antworten der 90er Jahre auf die Herausforderungen der 2020er Jahre antworten kann. Ein Beispiel: Die Union lehnt ein Einwanderungsgesetz ab. Migration in den Arbeitsmarkt ist aber eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Was es unter Führung der Union gab, ist Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme, ohne Perspektive für diejenigen, die bei uns ihr Glück versuchen und von eigener Hände Arbeit leben wollten. Um konservativ zu sein, macht die Union hier einen gigantischen wirtschaftspolitischen Fehler. Man kann nicht wirtschaftsliberal sein, ohne progressiv zu sein.
Frage: Seit wann sieht sich die FDP als progressive Partei?
Dürr: Seit ihrer Gründung. Die FDP war immer die Partei, die in Deutschland gesellschaftspolitische Debatten mit forciert hat. In unserer außerparlamentarischen Zeit und nach dem Wiedereinzug in den Bundestag haben wir das Thema Bildung in den Mittelpunkt gestellt. Wir werden jetzt einen Digitalpakt 2.0 nach vorne bringen. Unser Ziel ist es, dass jeder Mensch Lebenschancen hat, ganz unabhängig vom Elternhaus. Dazu ist Bildung der Schlüssel. Insofern ist die FDP die progressive Partei der Mitte, die gleichzeitig wirtschaftsliberal ist und bei Finanzen und Wohlstand die besten Antworten hat. In dieser Koalition fühle ich mich daher in guter Tradition meiner eigenen Partei.