DÜRR-Interview: Dringend nötige Einwanderung auf allen Ebenen in den Arbeitsmarkt
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab der „Welt am Sonntag“ und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Thorsten Jungholt und Jacques Schuster:
Frage: Herr Dürr, endlich hat der Sachverständigenausschuss seinen Evaluationsbericht zu den Corona-Maßnahmen veröffentlicht. Wie bewerten sie ihn und was folgt daraus für den Herbst?
Dürr: Die FDP hat viele der Maßnahmen, die die Vorgängerregierung zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt hat, immer kritisch hinterfragt. Der Evaluationsbericht hat uns nun bestätigt, dass flächendeckende Lockdowns und Schulschließungen weder angemessen noch besonders wirksam waren. Dazu wird es nicht mehr kommen. Wir werden innerhalb der Ampel nun über ein Schutzkonzept für den Herbst beraten. Sinnvoll wäre in jedem Fall, eine wissenschaftliche Teststrategie einzuführen, damit wir genau sehen können, wie sich das Virus ausbreitet.
Frage: Corona ist die eine Belastung des Herbstes, die andere ist der an sich schon belastete Haushalt. Ein Wissenschaftler-Team um Bernd Raffelhüschen hat errechnet, dass es zu einem zusätzlichen Finanzbedarf von 1,56 Billionen Euro führt, wenn die Ampelregierung das Rentenniveau über das Jahr 2025 hinaus bei 48 Prozent des Durchschnittsverdienstes stabil zu halten versucht. War Ihnen dieses Ausmaß an Belastung von Anfang an klar?
Dürr: Das Versprechen für ein stabiles Rentenniveau stammt noch aus Zeiten der großen Koalition. Wir haben einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht, indem wir vereinbart haben, die Aktienrente einzuführen. An dem Projekt arbeiten wir. Aber wenn wir in Zukunft stabile Renten und stabile Beiträge garantieren wollen, dann ist die einzige Möglichkeit, dass wir unseren Arbeitsmarkt fit machen. Das heißt: Einwanderung in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Das ist eines der wichtigsten Ampelprojekte.
Frage: Danach hatten wir nicht gefragt, aber gut: Es fehlen mittlerweile nicht nur Fachkräfte, sondern auch gering qualifizierte Arbeitskräfte. Woher sollen die kommen?
Dürr: Die Dinge hängen nun einmal zusammen. Wer glaubt, wie bis heute die Union, dass wir sichere Renten haben können während immer weniger Menschen arbeiten, der irrt. Nach der Phase der Gastarbeiter in den Sechzigern und Siebzigern hat sich der Arbeitsmarkt abgeschottet. Diese Haltung ist nie wirklich aufgebrochen worden. Es sind ja sogar Hunderttausende von Menschen aus dem Arbeitsmarkt ferngehalten worden, die seit Jahren in Deutschland leben. Das Gegenteil muss der Fall sein. Heute muss die Devise lauten: Jeder, der von seiner eigenen Hände Arbeit leben kann, muss sofort arbeiten dürfen. Da hat die von der Union geführte Regierung einen historischen Fehler gemacht. Deutschland ist eines der ältesten Länder der Welt. Wenn die Babyboomer in den Ruhestand treten, kommen Jahrgänge in den Arbeitsmarkt, die noch halb so groß sind. Die Situation ist dramatisch und weil das so ist, brauchen wir Einwanderung.
Frage: Um es klarzustellen: Sie wünschen sich also auch eine Einwanderung Geringqualifizierter?
Dürr: Es geht um dringend nötige Einwanderung auf allen Ebenen in den Arbeitsmarkt. Wer von eigener Hände Arbeit leben kann, der ist willkommen. Denn der zahlt schließlich Steuern und in die Rente ein.
Frage: Kann eine Regierung funktionieren, wenn die SPD und Grüne künftig ständig über von ihnen gewünschte Wohltaten sprechen – und deren Scheitern dann den Liberalen in die Schuhe schieben?
Dürr: Die drei Parteien sind sehr unterschiedlich. Diese Unterschiedlichkeit sollten wir auch nicht versuchen zu überdecken. Beim Thema Schuldenbremse steht die FDP mutterseelenallein. Dass es die Schuldenbremse überhaupt noch gibt, ist einzig der Regierungsbeteiligung der FDP zu verdanken. Die Union war bereit, sie zu schleifen. Es gibt also eine breite politische Mehrheit für die Abschaffung der Schuldenbremse – obwohl es eine breite gesellschaftliche Mehrheit für den Erhalt der Schuldenbremse gibt. Das wird sich bei den nächsten Wahlen zeigen.
Frage: Im Unterschied zu den Grünen gelingt es der FDP nur bedingt, die Arbeit ihrer Minister in den Vordergrund zu rücken. Was läuft schief?
Dürr: Die Beobachtung teile ich nicht. Der Finanzminister steht für die Schuldenbremse, die Bildungsministerin für die Bafög-Reform. Und der Verkehrsminister kämpft mit der kaputten Infrastruktur, die er von seinen Vorgängern der Union geerbt hat. Schließlich der Justizminister und die Corona-Politik: Stellen Sie sich eine Sekunde vor, wie Deutschland jetzt Anfang Juli aussehen würde, wäre die FDP nicht in der Bundesregierung! Die Ministerpräsidenten reden schon wieder von Lockdowns und Ausgangssperren, das erinnert mich fast an den chinesischen Weg. Wir dagegen setzen auf Eigenverantwortung und das Impfen. Wir gehen den europäischen Weg.
Frage: Wir laufen auf die wohl größte Energiekrise seit 1949 zu. Jede eingesparte Kilowattstunde helfe, sagt Wirtschaftsminister Habeck. Wann beruft die FDP den Koalitionsausschuss ein, um über die Laufzeitverlängerung der verbliebenen AKW zu sprechen?
Dürr: Gerade weil es auf jede Kilowattstunde ankommt, sollten wir keine Technologie ausschließen. Bezüglich des Kernkraftwerks Isar 2 in Bayern gibt es auch Analysen des TÜV, dass es möglich wäre, es länger laufen zu lassen. Der große Vorteil der Kernenergie ist, dass sie grundlastfähig ist, dass sie CO2-neutral ist – und dass sie zur Verfügung steht. Insofern wäre es ein Fehler, die Kernkraftwerke jetzt abzuschalten. Es geht mir gar nicht darum, erneut eine große gesellschaftliche Debatte zu führen. Es geht darum, in dieser konkreten Krise angemessen zu reagieren. Bei der Kohlekraft haben wir das zu Recht getan. Bei der Kernenergie sollte es nicht ausgeschlossen bleiben.
Frage: Sehen Sie denn bei den Grünen Zeichen oder Signale dafür, dass dieses Tabu wenigstens zeitweilig gebrochen werden kann?
Dürr: Ich will nicht von Tabubruch reden. Es geht um Vernunft. Wir dürfen im Winter nicht sehenden Auges in eine Energielücke steuern. Das ist keine Option. Und es geht nicht darum, ob das Wohnzimmer jetzt 22 oder 19 Grad hat. Es geht um die Frage, ob Lieferketten funktionieren, ob die Grundstoffindustrie produzieren kann, ob beispielsweise Dialyseschläuche für Krankenhäuser zur Verfügung stehen. Eine Energielücke birgt eine Dramatik, wie wir uns das jetzt noch gar nicht vorstellen können. Deswegen müssen alle Möglichkeiten genutzt werden.
Frage: Am Dienstagvormittag hatte Finanzminister Lindner der Umweltministerin noch beim Aus für Verbrenner widersprochen. Nun kam es bei den Umweltministern in Brüssel doch noch zur Einigung. Ist der Verbrenner also gerettet?
Dürr: Die Ampel ist sich einig, dass nach 2035 auch Autos mit Verbrennungsmotoren zugelassen werden dürfen, die mit klimaneutralen Kraftstoffen betrieben werden. Für den Klimaschutz ist nicht wichtig, ob ein Auto mit Motor oder Batterie betrieben wird - für den Klimaschutz ist wichtig, dass es CO2-neutral betrieben wird. Ohne E-Fuels werden wir unsere Klimaziele im Verkehr nicht erreichen können. Daher ist es richtig, dass es nicht zu einem allgemeinen Verbrenner-Aus kommen wird.
Frage: E-Fuels setzen die Produktion sauberen Wasserstoffs voraus. An der Produktion mangelt es in Deutschland. Was wird die Regierung tun, um dieses Defizit zu beseitigen?
Dürr: Noch fehlt uns die nötige Infrastruktur. Darum war es richtig, dass die Ampel den Ausbau von LNG-Terminals an der Nordseeküste beschleunigt hat. Die Terminals werden für Flüssiggas genutzt, aber wir können davon ausgehen, dass der Bedarf an Wasserstoff steigen wird. Genau wie bei den Gaskraftwerken, die in Zukunft auf klimaneutralen Wasserstoff umgestellt werden sollen, wäre es sinnvoll, LNG-Terminals so zu bauen, dass sie eines Tages für Wasserstoff-Importe genutzt werden könnten. Auch der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere Offshore-Windenergie, wird die nötigen Voraussetzungen für die Wasserstoff-Produktion in Deutschland schaffen.