DÜRR-Interview: Deutschland muss als Standort wieder attraktiv werden
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab dem „Handelsblatt“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Martin Greive und Jan Hildebrand.
Frage: Herr Dürr, CDU-Chef Friedrich Merz hat gesagt, die FDP begehe in der Ampelkoalition „organisierten Selbstmord“. Wenn man die letzten Wahlergebnisse betrachtet, ist die Sorge berechtigt, oder?
Dürr: Es braucht sich niemand um die FDP sorgen. Wir sollten uns aber alle um unser Land sorgen. Das ist leider nach 16 Jahren CDU-geführter Bundesregierungen in keinem guten Zustand.
Frage: Und in drei Jahren Ampelregierung ist es eher schlechter als besser geworden.
Dürr: Wir haben schon viele Scherben zusammengekehrt. Aber wir müssen noch mehr tun - wo es nötig und möglich ist, auch gerne mit der CDU zusammen. Ich erkenne an, dass die CDU sich in der Opposition erneuert und ihren Kurs korrigiert, etwa in der Migrationspolitik.
Frage: Die FDP hat einen „Herbst der Entscheidungen“ angekündigt und der Ampel damit ein Ultimatum gestellt. Was muss jetzt entschieden werden?
Dürr: Wir müssen jetzt für zwei Dinge sorgen: Für Ordnung und Kontrolle bei der Migration und für einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Frage: Was bedeutet Ordnung und Kontrolle in der Migration konkret?
Dürr: In einem Satz zusammengefasst: Es muss leichter sein, nach Deutschland zu kommen, um zu arbeiten, als nach Deutschland zu kommen, um nicht zu arbeiten. Und wer kein Recht hat, in Deutschland zu bleiben, muss auch wieder gehen. Bund und Länder müssen dafür zusammenarbeiten.
Frage: Die Union hat die letzten Verhandlungen mit der Ampel abgebrochen. Wird es einen neuen Versuch geben?
Dürr: Die Demokraten müssen in diesem Herbst beweisen, dass sie die Kraft haben, diesen seit 2015 schwelenden Großkonflikt in der deutschen Gesellschaft zu lösen. Ich war überrascht, dass die Union bei dem letzten Gespräch einfach aufgestanden ist. Aber ich freue mich, dass Friedrich Merz die Bereitschaft signalisiert hat, an den Tisch zurückzukommen. Diese Chance sollten wir ergreifen.
Frage: Das zweite große Thema, das Sie genannt haben, ist die Wirtschaftslage. Dieses Jahr wird die Wirtschaft das zweite Jahr in Folge schrumpfen. Ist das nicht ein verheerendes Zeugnis für die Ampel?
Dürr: Es ist vor allem ein Beleg dafür, dass über anderthalb Jahrzehnte keine Reformpolitik gemacht worden ist. Gleichzeitig sind durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Energiepreise gestiegen. Diese Ursachen müssen wir schon benennen. Aber ich will die Lage gar nicht schönreden, die Wachstumszahlen sind absolut nicht zufriedenstellend.
Frage: Was muss geschehen?
Dürr: Ich erwarte, dass wir die Wachstumsinitiative, die wir in der Koalition verabredet haben, eins zu eins umsetzen. Da müssen alle Bundesminister liefern. Die Gesetze müssen vor dem Beschluss des Haushalts durch den Bundestag, damit sie zügig in Kraft treten.
Frage: Und wenn SPD und Grüne nicht mitziehen?
Dürr: Das ist außerhalb meiner Vorstellungskraft. Alle sind sich einig, dass Deutschland dringend mehr wirtschaftliche Dynamik braucht. Dann muss die Umsetzung der Wachstumsmaßnahmen gelingen. Alles andere wäre nicht vermittelbar.
Frage: Die Wachstumsinitiative in allen Ehren, aber reicht die aus angesichts der Probleme im Land?
Dürr: Wir gehen mit der Wachstumsinitiative in die richtige Richtung und verdoppeln dadurch unser Wachstumspotenzial. Wir reformieren das Bürgergeld, sodass es treffsicherer wird als Hartz IV. Wir bekommen bei der Arbeitszeit eine Flexibilisierung, die lange nicht möglich gewesen wäre. Bürger und Unternehmen werden steuerlich entlastet. Es geht um 49 Maßnahmen, das ist ein großes Paket.
Frage: Finanzminister Christian Lindner, Ihr Parteichef, würde den „Ambitionsgrad“ der Regierung gerne noch erhöhen.
Dürr: Richtig so. Die FDP ist die Partei in Deutschland, die immer noch etwas mehr will, die ungeduldiger ist als andere.
Frage: Die FDP steht bundesweit in Umfragen nur noch bei vier Prozent, weil sie so ambitioniert ist?
Dürr: Das führt eben nicht immer zu Applaus. Denken Sie an die Pandemie: Es war die FDP, die frühzeitig auf ein Auslaufen der Corona-Maßnahmen gedrängt hat und das auch durchgesetzt hat. Dafür wurden wir ziemlich angegangen, etwa von CSU-Chef Markus Söder, der da noch Anführer von Team Vorsicht war, bevor er auf unsere Linie eingeschwenkt ist. Derzeit bewegen sich CDU und Grüne in der Migrationspolitik auf uns zu, auf die Mitte. Vielleicht ist es das Schicksal der Liberalen, dass wir vorangehen, wenn andere noch ein bisschen länger brauchen.
Frage: Ihre Koalitionspartner sehen das anders. SPD-Chefin Saskia Esken sagt, die FDP würde ihre Verzweiflung in Provokationen kanalisieren und sich ständig profilieren wollen.
Dürr: Uns geht es darum, das Richtige für das Land zu tun. Vielleicht sind wir manchmal etwas forscher. Wenn das zu Dynamik führt und auch Frau Esken am Ende bereit ist, dann ist viel erreicht.
Frage: Wenn die FDP so ambitioniert ist: Wieso geben Sie sich dann mit der Wachstumsinitiative zufrieden, statt auf einen großen Wurf à la Agenda 2010 zu drängen?
Dürr: Die FDP ist zu großen Würfen bereit. Ich möchte aber auf einen entscheidenden Unterschied zu Zeiten der Agenda 2010 hinweisen.
Frage: Nämlich?
Dürr: Die wirtschaftspolitischen Entscheidungen konnten damals noch sehr national getroffen werden. Heute brauchen wir auch Änderungen in Europa, weil in den letzten 15 bis 20 Jahren unfassbar viel Regulierung von der EU gekommen ist, die uns jetzt bindet. Es hilft nichts, wenn wir in Deutschland aufs Gas treten und Europa die Handbremse anzieht.
Frage: Der Fingerzeig nach Brüssel klingt ein wenig nach Ausrede, weil die Ampelkoalition selbst nichts mehr hinbekommt.
Dürr: Nein, im Gegenteil. Denn auch die Bundesregierung hat Einfluss in Brüssel. Ob Nachhaltigkeitsberichterstattung, Lieferkettenrichtlinie oder Flottenregulierung für die Automobilindustrie – all das kommt aus Brüssel und schadet dem Wirtschaftsstandort. Wir sind dabei, uns tot zu regulieren und diese Koalition muss sich dafür einsetzen, dass das endet, schließlich sind wir die größte Volkswirtschaft Europas. Ursula von der Leyen verspricht Wettbewerbsfähigkeit, tut aber bisher nichts dafür. Im Europawahlkampf hat sie zugesagt, das Verbrenner-Aus zurückzunehmen. Wir wollen, dass sie das jetzt einlöst.
Frage: Aber VW hat doch nicht so große Probleme, weil irgendwann ein Verbrenner-Aus droht, sondern weil der Konzern aktuell keine attraktiven Autos für den Weltmarkt produziert.
Dürr: Das Verbrenner-Aus wirkt schon heute, weil der Rahmen jedes Jahr enger wird. Volkswagen ist teilweise einer planwirtschaftlichen Politik gefolgt, nach dem Motto: Der Staat gibt vor, welche Autos gebaut werden. Und wenn die am Markt nicht ausreichend Absatz finden, werden diese Autos subventioniert. Ich mache da VW keinen Vorwurf, sondern der Politik.
Frage: Was fordern Sie?
Dürr: Die Flottenregulierung muss abgeschafft werden. Das Verbrenner-Aus muss weg. Es macht die Welt kein bisschen besser, aber den Standort Europa schlechter. Mit Elektroautos, die mit Braunkohlestrom geladen werden, erreichen wir die Klimaziele nicht. Mit Autos, die mit klimaneutralen Kraftstoffen fahren, haben wir eine Chance, die Ziele zu erreichen, davon bin ich überzeugt. Am Ende entscheiden die Verbraucher, was sich durchsetzt.
Frage: Am Freitag hat Brüssel entschieden, Importzölle auf chinesische Elektroautos einzuführen, wovon am stärksten deutsche Autobauer betroffen sind, die in China produzieren. Ein Fehler?
Dürr: Das gegenseitige Überbieten mit Strafzöllen droht in einen gefährlichen Auto-Handelskrieg mit China auszuarten. Die Hersteller sind zu Recht in großer Sorge. Ich kann offen gestanden nicht nachvollziehen, dass sowohl die Grünen als auch Teile der CDU ein solches Vorgehen, das unserer Schlüsselindustrie derart schaden würde, unterstützen. Ich bin dankbar, dass die SPD hingegen eine klare Haltung hat. Deutschland muss sich unbedingt weiterhin für eine Verhandlungslösung in Brüssel einsetzen.
Frage: Auch Kanzler Olaf Scholz und die SPD wollen nun den Erhalt von Industriearbeitsplätzen zum Kern ihrer Politik machen. Allerdings denken sie dabei an Subventionen, etwa beim Strompreis. Kommt da der nächste Konflikt auf die Ampel zu?
Dürr: Zunächst einmal muss man anerkennen, dass der Kanzler und auch die SPD jetzt das Bewusstsein haben, wie ernst die Lage ist. Die falschen Rahmenbedingungen mit immer mehr Subventionen verdecken zu wollen, das wäre aber sicherlich nicht klug. Das hat ja bereits in der Vergangenheit nicht funktioniert. Europa muss stattdessen in der Wirtschaftspolitik umsteuern. Wir sind nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig. Das gefährdet unsere Sicherheit.
Frage: Wie meinen Sie das?
Dürr: Über ein wirtschaftlich schwaches Europa freut sich zuerst Russlands Präsident Wladimir Putin. Wir müssen stark sein, gerade in diesen Zeiten, in denen wir geopolitisch herausgefordert werden. Die ökonomische Stärke ist unmittelbar mit unserer geopolitischen Stärke verbunden.
Frage: Russlands Krieg gegen die Ukraine geht unvermindert weiter, der Iran greift Israel an, im November könnte Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden: Wäre es nicht unverantwortlich, in so einer Lage den Fortbestand der Ampelkoalition infrage zu stellen?
Dürr: Unverantwortlich wäre es, die Hände in den Schoß zu legen und nichts für unsere Wirtschaftsstärke und damit unsere Sicherheit zu tun.
Frage: Angenommen Trump gewinnt die Wahl, mit all den Konsequenzen für Europa: Da sähe es doch wahnsinnig aus, wenn die FDP wegen einer verschleppten Wirtschaftsinitiative die Koalition platzen lässt.
Dürr: Was angesichts dieser Lage sicherlich nicht geht: Die europäische Wirtschaft weiter kaputt regulieren, die Schuldenbremse aushebeln und unsere Finanzstabilität riskieren. Das wäre kein Beitrag zur Stabilität. Und deshalb hat es das mit der FDP in der Vergangenheit nicht gegeben und wird es mit uns auch in Zukunft nicht geben.
Frage: Gehört das Rentenpaket II auch zum „Herbst der Entscheidungen“, den die FDP ausgerufen hat? Aus ihrer Fraktion gibt es scharfe Kritik. Die Reform belaste einseitig die jüngere Generation.
Dürr: Die FDP-Fraktion will ein stabiles Rentenniveau, aber das muss solide finanziert sein. Deshalb ist der Aufbau des Generationenkapitals Teil des Rentenpakets. Zusätzlich hat Christian Lindner seinen Reformplan für die private Alterssicherung vorgelegt, das Altersvorsorgedepot. Insgesamt kann das ein gutes Paket werden. Nichtstun ist jedenfalls keine Option. Dann steigen die Rentenbeiträge erst recht.
Frage: Lindner sagt, das Rentenpaket sei ausverhandelt. Ihr Erster Parlamentarischer Geschäftsführer Johannes Vogel meint hingegen, es sei noch nicht zustimmungsfähig. Was sagt der Fraktionschef?
Dürr: Die vorherigen Bundesregierungen haben stabile Renten versprochen, aber nie gesagt, wie das finanziert werden soll. Das packen wir jetzt an. Mit dem Generationenkapital, aber auch mit dem privaten Altersvorsorgedepot. Sicherlich wird es bei den parlamentarischen Verhandlungen noch technische Änderungen geben. Darüber reden wir jetzt in den Koalitionsfraktionen.
Frage: An der Rentenpolitik wird die Ampel also nicht scheitern?
Dürr: Nein.
Frage: Es gab zuletzt eine Reihe von Übernahmen von deutschen Unternehmen. Ist das aus Ihrer Sicht ein Zeichen von Stärke oder Schwäche?
Dürr: Es ist ein Zeichen von Veränderung. Deutschland hat in den vergangenen 100 Jahren großartige Unternehmen hervorgebracht. Wir können und wollen nicht verhindern, dass mal welche veräußert werden oder einen neuen Eigentümer bekommen. Der Fokus der Politik muss doch ein anderer sein: Sorgen wir dafür, dass auch in Zukunft neue großartige Unternehmen in Deutschland entstehen! Deutschland muss als Standort wieder attraktiv werden. Und das allerbeste Rezept, um das hinzukriegen, lautet: wirtschaftliche Freiheit gewährleisten.