DÜRR-Interview: Brauchen eine klare Perspektive für Öffnungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab „t-online.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Sven Böll und Tim Kummert:
Frage: Herr Dürr, die Ampel regiert seit fast zwei Monaten. Wie bewerten Sie den Start?
Dürr: Gut!
Frage: Wir haben nichts anderes erwartet.
Dürr: Ich glaube wirklich, dass SPD, Grünen und der FDP etwas grundlegend Neues gelungen ist. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen viel Vertrauen aufgebaut und einen neuen Stil etabliert: miteinander reden, eine Lösung finden - und erst dann an die Öffentlichkeit gehen. Das unterscheidet uns fundamental von der großen Koalition. Klar, es gibt auch mal unterschiedliche Auffassungen zwischen den Parteien. Wichtig ist aber, dass wir uns einigen.
Frage: Interpretieren wir Ihre Aussage richtig: Sie würden der neuen Regierung eine 2+ geben?
Dürr: Irgendetwas zwischen 1- und 2+.
Frage: Glauben Sie, SPD und Grüne sehen das genauso?
Dürr: Ich denke schon. Bei den wichtigen Projekten sind wir uns doch einig: Von der Entbürokratisierung über die Bewältigung des demografischen Wandels bis zum Klimaschutz.
Frage: Anfangs profitierte die FDP in den Umfragen. Wohl auch, weil der Eindruck entstand, sie habe sich in den Koalitionsverhandlungen weitgehend durchgesetzt. Wie erklären Sie sich, dass es demoskopisch zuletzt für Ihre Partei bergab ging?
Dürr: In dieser Woche sind wir bei einer Umfrage um einen Prozentpunkt gestiegen – aber ich würde diese kleinen Schwankungen nicht überbewerten, unabhängig davon, in welche Richtung sie gehen.
Frage: Beim Politbarometer lag die FDP Ende Oktober bei 14 Prozent, inzwischen stehen Sie dort bei 10. Wirklich alles kein Problem?
Dürr: Ach wissen Sie: Es nervt die Menschen doch, wenn Politiker ihre Entscheidungen von Umfragen abhängig machen. Sie wollen, dass Probleme gelöst werden und ordentlich regiert wird.
Frage: Vielleicht wollen die Bürger aber auch, dass Politik den eigenen Überzeugungen folgt. Bundesfinanzminister Christian Lindner hat einen Nachtragshaushalt vorgelegt, mit dem er für die Pandemiebekämpfung genehmigte, aber nicht verbrauchte Schulden für künftige Investitionen reserviert. Das hätte die FDP früher verurteilt.
Dürr: Moment, Moment! Ich habe selbst scharf verurteilt, was Union und SPD im Jahr 2020 getan haben: einen Nachtragshaushalt ohne klare Zweckbindung zu verabschieden und dabei – anders als die Ampel – sogar den Verschuldungsrahmen auszuweiten. Da finde ich es schon bemerkenswert, dass CDU/CSU uns nun kritisieren.
Frage: Nunja, sie sind eben jetzt in der Opposition.
Dürr: Damit kann man natürlich fast alles entschuldigen. Aber im Ernst: Wir machen doch jetzt das Gegenteil! Wir nehmen nicht genutzte Kredite aus dem Jahr 2021, um wichtige Investitionen nachzuholen und schnellstmöglich aus der Krise zu kommen. Dabei reduzieren wir die Neuverschuldung um 25 Milliarden Euro. Das entlastet den Bundeshaushalt – und ist in unserem Sinne, weil wir spätestens 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten wollen.
Frage: Aber Investitionen in Windräder oder die Transformation der Automobilindustrie bräuchte es doch auch ohne Corona-Krise.
Dürr: Es sind in den vergangenen beiden Jahren eben sehr viele Investitionen ausgeblieben. Das wollen wir jetzt durch verbesserte Rahmenbedingungen ändern. Ein Beispiel: Wir schaffen die EEG-Umlage nun rasch ab, um private Haushalte und Mittelständler zu entlasten.
Frage: Die Ampel ist ein wenig mit dem alten Motto von Gerhard Schröder angetreten: „Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen“.
Dürr: Also da finde ich unser Motto und die Überschrift des Koalitionsvertrages ambitionierter: Mehr Fortschritt wagen.
Frage: Worauf wir hinaus wollten: Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) verkündete vor einigen Tagen plötzlich einen Förderstopp fürs energetische Sanieren und Bauen. Verliert man mit solchen Adhoc-Aktionen nicht Vertrauen?
Dürr: Das Problem ist ein anderes: Die KfW-Programme wurden schon während der großen Koalition so stark nachgefragt, dass die Fördertöpfe eigentlich ausgeschöpft waren. Doch die Vorgängerregierung hat das Thema komplett verschlafen. Nur deshalb haben wir diese Altlast geerbt. Und jetzt gelöst: Steuergeld wird nur noch da ausgegeben, wo es sinnvoll ist.
Frage: Blicken wir nach vorn: Was ist das wichtigste Problem, das die Regierung bis zum Sommer lösen muss?
Dürr: Das bleibt Corona – und der vernünftige Umgang damit. Zum 19. März werden alle Maßnahmen in Deutschland auslaufen, wenn wir jetzt nicht darüber beraten, wie es weitergeht.
Frage: Und Sie wollen alle Maßnahmen auslaufen lassen?
Dürr: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann falsch liegt, wenn er bis Ostern nichts ändern will. Einigen wir uns nicht auf neue Regeln, gibt es nach dem 19. März keine mehr. Deshalb brauchen wir jetzt einen Fahrplan.
Frage: Das heißt: Wir müssen über Öffnungen reden?
Dürr: Auf jeden Fall. Das gehört für mich zu einem vernünftigen Umgang mit der Pandemie dazu.
Frage: Und das erwarten Sie auch von der Ministerpräsidentenkonferenz am 16. Februar?
Dürr: Ja, wir brauchen eine klare Perspektive für Öffnungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Bund und Länder müssen jetzt liefern, sodass wir konkrete Maßnahmen im Bundestag beschließen können. Einerseits, weil es schlicht einen gesetzlichen Rahmen für die weitere Bekämpfung der Pandemie braucht. Andererseits, weil die Ministerpräsidenten diese Perspektive bei ihrem letzten Treffen angekündigt haben. Sofern das nötig ist, erinnere ich sie gern daran.
Frage: Halten Sie eine gemeinsame Lösung überhaupt für realistisch? Es herrscht so viel Uneinheitlichkeit wie selten: Winfried Kretschmann will gar nicht lockern, der einstige Chef des selbsternannten Teams „Vorsicht“ Markus Söder prescht dagegen mit Öffnungen vor.
Dürr: Ich verstehe die Frustration, die sich vielleicht bei manch einem breitmacht, denn sie ist berechtigt. Gerade Herr Söder und Herr Kretschmann haben die Runde der Ministerpräsidenten immer wieder für ihre parteipolitische Profilierung genutzt. Allerdings merken wir alle jetzt, dass immer mehr der Forderung der FDP nach Öffnungsperspektiven folgen. Mit dem Vorschlaghammer lassen sich keine Regelungen mehr durchsetzen. Umso wichtiger ist es, dass es weiter einen Konsens aller Beteiligten gibt.
Frage: In einigen Bundesländern gibt es Hinweise, dass die vierte Welle womöglich schon gebrochen ist. Anderen steht der Höhepunkt dagegen noch bevor.
Dürr: Das eine schließt das andere doch nicht aus: ein bundeseinheitliches Vorgehen mit regionaler Differenzierung. So muss es sein.
Frage: An welche Öffnungsschritte denken Sie konkret?
Dürr: Die 2G-Regel im Einzelhandel bringt für die Eindämmung der Pandemie wenig, das ist mittlerweile wissenschaftlich belegt. Wir können sie deshalb so schnell wie möglich abschaffen. Ich finde es auch nicht mehr zeitgemäß, dass man sich nur mit zehn Personen treffen kann. Der Staat sollte nicht länger Kontaktbeschränkungen für Geimpfte vorschreiben. Die meisten Menschen sind von sich aus bei größeren Zusammenkünften vorsichtig.
Frage: Glauben Sie eigentlich, dass es eine allgemeine Impfpflicht geben wird?
Dürr: Ich glaube zumindest, dass sie dann sinnvoll ist, wenn sie kein Selbstzweck ist.
Frage: Inwiefern?
Dürr: Die Impfpflicht darf kein politisches, sondern muss ein medizinisches Instrument sein. Wenn wir damit aus der Dauerschleife rauskommen und eine mögliche nächste Welle im Herbst brechen, könnte sie sinnvoll sein. Aber wir haben uns in der Regierung verständigt, die Frage im Bundestag zu diskutieren und im ersten Quartal zu entscheiden. Und das machen wir jetzt.
Frage: Die Ampel ist sich allerdings nicht einig. Einige Liberale wollen gar keine Impfpflicht, andere eine ab 50 Jahren, viele SPDler und Grüne dagegen für alle Erwachsenen. Worauf können Sie sich verständigen?
Dürr: Ich bin noch nicht endgültig entschieden. Der Bundespräsident hat doch recht, wenn er sagt: Eine Impfpflicht ist in erster Linie eine Debattenpflicht.
Frage: Auf die Unterstützung der Union kann die Regierung kaum zählen. Die Äußerungen des künftigen Fraktionschefs Friedrich Merz heißen übersetzt doch „Liebe Ampel, dann macht mal, wir werden euch bei der Impfpflicht nicht retten“.
Dürr: Die Union muss uns gar nicht retten, es ist eine Gewissensentscheidung für jeden Abgeordneten. Ich kenne auch viele Kollegen in der Union, die noch sorgfältig abwägen. Im Übrigen: Der bisherige Fraktionschef der Union, Ralph Brinkhaus, war für eine Impfpflicht ab 18, wie sie viele bei SPD und Grünen befürworten. Friedrich Merz ist eher für eine Impfpflicht ab 50 Jahren, wie viele Liberale es fordern.
Frage: Das heißt?
Dürr: Wir lernen aktuell viel über die Omikron-Variante, erfahren jede Woche mehr, wie sich das Virus in einer möglicherweise endemischen Lage entwickeln wird. Und auf der Grundlage aller Fakten ist es doch klug, erst mit diesem Wissen im März über die Impfpflicht zu entscheiden.
Frage: Wir wissen, dass Olaf Scholz für eine Impfpflicht ist – weil er das im November gesagt hat. In der aktuellen Tagespolitik taucht er dagegen kaum auf. Bei Twitter macht bereits die Frage „Wo ist Scholz?“ die Runde. Wissen Sie es?
Dürr: Jetzt, in dieser Minute?
Frage: Nein, eher grundsätzlich.
Dürr: Ich habe ihn vor kurzem in Berlin gesehen und mit ihm gesprochen.
Frage: Wann war das?
Dürr: In der vergangenen Woche. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich habe auch andere Kollegen seitdem nicht gesehen. Man kann auch auf digitalem Weg Politik machen.
Frage: Trotzdem: Gerade in der Ukraine-Krise entsteht doch der Eindruck, dass andere Staats- und Regierungschefs viel aktiver sind. Emmanuel Macron etwa.
Dürr: Ich bin nicht der Regierungssprecher. Was Herr Scholz macht, müssen Sie ihn schon selber fragen. Was ich aber sagen kann: Er ist ein anderer Typus Politiker als Herr Macron. Er legt nicht so viel Wert auf Selbstmarketing, vieles von dem, was er macht, findet nicht unter dem Brennglas der Öffentlichkeit statt.
Frage: Die Welt ist allerdings medialisierter denn je.
Dürr: Das mag sein. Olaf Scholz und wir alle in der Regierung haben es aber bereits in den Koalitionsverhandlungen gezeigt, bei denen auch nicht viel nach außen drang: Es geht der Ampel nicht darum, ein gutes Theaterstück aufzuführen. Sondern darum, gute politische Arbeit zu leisten.