BUSCHMANN-Interview: Unser Ziel ist es, pauschale Lockdowns zu vermeiden
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann gab der „Welt“ (Freitagsausgabe) und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Thorsten Jungholt:
Frage: Sie werden in der nächsten Woche der neunte von der FDP gestellte Bundesminister der Justiz, Herr Buschmann. In wessen Tradition sehen Sie sich?
Buschmann: Ich sehe eine klare Traditionslinie von Thomas Dehler bis Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, in die ich mich gerne einreihe. Thomas Dehler hat das Haus aufgebaut. Er war immer eine kräftige Stimme für den Rechtsstaat. Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist über alle Parteigrenzen hinweg anerkannt als eine Streiterin für die Bürgerrechte.
Frage: Wenn Dehler ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht passte, scheute er vor robuster Schelte des Gerichtspräsidenten nicht zurück. Wie gehen Sie mit den Beschlüssen Karlsruhes zur „Bundesnotbremse“ um, gegen die Sie mit weiteren FDP-Abgeordneten vergeblich geklagt haben?
Buschmann: Thomas Dehler war damals nicht der Einzige, der sich herzhafte Kommentare erlaubt hat. Denken Sie bitte an die noch herberen Kommentare von Herbert Wehner (SPD). Das war eine andere Zeit. Heute gehört es sich, im Sinne der Gewaltenteilung und des geordneten Miteinanders der Verfassungsorgane, dass man die Richter einfach ihre Arbeit machen lässt. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Aufgabe, den Streit über die Corona-Maßnahmen zu entscheiden. Das hat es jetzt getan. Das Ergebnis respektiere ich selbstverständlich auch.
Frage: Die Beschlüsse schaffen Rechtsklarheit. Schaffen Sie auch Rechtsfrieden?
Buschmann: Es wird jetzt darauf ankommen, wie wir damit umgehen. Im Kern besagen die Entscheidungen, dass der Gesetzgeber einen sehr weiten Spielraum besitzt: bei der Beurteilung der Lage und der Wahl der geeigneten Instrumente, um Corona zu besiegen. Insofern lese ich das Urteil auch als Bestätigung dafür, dass wir als Ampel-Koalition andere Schwerpunkte setzen können als die große Koalition. Wir wollen die Zahl der Infektionen entschlossen senken, aber zugleich versuchen, wenn es verantwortbar ist, noch öffentliches Leben möglich zu machen. Unser Ziel ist es, pauschale Lockdowns zu vermeiden und stattdessen die vierte Welle mit gezielteren Maßnahmen als bisher zu brechen.
Frage: Erkennen Sie weitere Leitlinien in den Beschlüssen?
Buschmann: Es gibt jetzt ein Grundrecht auf Bildung. Das bedeutet, dass die Situation von Kindern und Jugendlichen nicht nur als rein politischer Abwägungsaspekt berücksichtigt werden muss, sondern dass es auch eine verfassungsrechtliche Pflicht gibt, das noch stärker zu tun. Ich glaube, dass letztendlich der große Gedanke von Ralf Dahrendorf – nämlich Bildung als Bürgerrecht – nun höchstrichterlich anerkannt worden ist.
Frage: Karlsruhe hat die Schulschließungen dennoch abgesegnet. Wie hält es die Ampel?
Buschmann: Das kann nur Ultima Ratio sein. Wir wollen die Schulen offenhalten. Es gibt Notrufe aus den Kinderpsychiatrien, seelische Schäden, dramatische Lernrückstände. Wir wissen, dass die Betreuungssituation in den Familien ohne Schulen eine enorme Belastung darstellt. Deshalb haben wir schon bei der letzten Novelle des Infektionsschutzgesetzes ausdrücklich festgelegt, dass die Belange von Kindern und Jugendlichen beim Handeln der Ordnungsbehörden maßgeblich Berücksichtigung finden müssen. Insofern kann man in dem Urteil sogar eine Bestätigung dieser Schwerpunktsetzung erkennen.
Frage: Was ist mit Ausgangssperren?
Buschmann: Wir haben uns gegen Ausgangssperren entschieden. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass vom Verlassen der Wohnung um vier Uhr morgens kein gesteigertes Pandemiegeschehen ausgeht. Entscheidend sind vielmehr Kontaktbeschränkungen.
Frage: War das Auslaufenlassen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite vor wenigen Wochen rückblickend ein Fehler?
Buschmann: Ich kann verstehen, dass einige Menschen das so empfinden. Denn immer wieder wird behauptet, dass dadurch ein kleinerer Instrumentenkasten zur Verfügung stehe. Aber das ist in der Pauschalität schlicht falsch. Es ist ein anderer Instrumentenkasten. Er gibt den Ländern Möglichkeiten, um gemäß der Lage vor Ort zu reagieren. Denn es macht einen objektiven Unterschied für die Wahl der richtigen Mittel, ob ich eine 1200er-Inzidenz wie in Sachsen habe oder eine 150er-Inzidenz wie in Schleswig-Holstein. Und wir haben Maßnahmen auf den Weg gebracht, die es nach altem Recht nicht gab.
Frage: Zum Beispiel?
Buschmann: Wir haben 3G am Arbeitsplatz und im ÖPNV sowie eine strenge Testpflicht in Alten- und Pflegeheimen durchgesetzt. 2G im öffentlichen Leben haben wir auf eine rechtssichere Grundlage gestellt. Flankierend haben wir die Finanzierung der Impfzentren sichergestellt, auch der Testinfrastruktur. Denn die Abschaffung der kostenlosen Bürgertests war ein schwerer Fehler. In einem nächsten Schritt werden wir jetzt den Kreis derjenigen Personen ausweiten, die eine Impf-Spritze setzen dürfen. Denn wir wollen die vierte Welle mit einer sehr ambitionierten Booster-Kampagne brechen.
Frage: Auf wen erweitern?
Buschmann: Apotheker, Fachärzte, Zahnärzte beispielsweise, die das ja auch können. Sie alle sind in der Lage, sicher eine Spritze zu setzen, die seltenen allergischen Reaktionen zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Wir gehen in die Offensive. Das Ziel sind 25 bis 30 Millionen Impfungen bis Jahresende.
Frage: Die Ampel hat einen Generalmajor der Bundeswehr an die Spitze des Krisenstabs berufen. Wer hatte diese Idee?
Buschmann: Wir haben im Rahmen der Koalitionsverhandlungen gemeinsam darüber gesprochen – und es gemeinsam entschieden.
Frage: Es ist ja bekannt, dass Sie eine gewisse Affinität zu militärischen Führungsphilosophien haben.
Buschmann: Da bin ich aber nicht allein. Aber eines ist klar: Es geht bei der Impfkampagne um eine große logistische Operation. Eine Vielzahl von Menschen und große Mengen an Material müssen in großen Räumen bewegt werden. Genau dafür sind Offiziere der Bundeswehr ausgebildet. Sie lernen auch noch stärker als andere Berufsgruppen, unter Bedingungen der Unsicherheit sorgfältig und zügig zugleich zu entscheiden. General Breuer hat in vielen anderen Krisen bewiesen, dass er ein herausragender Experte auf diesem Feld ist.
Frage: In der Union heißt es jetzt: Einen Krisenstab gab es schon, da war auch ein Militär mit dabei. Worin unterscheidet sich Ihr Gremium von dem, was es schon gab?
Buschmann: Wenn ich richtig informiert bin, war ein Generalarzt als Abteilungsleiter bei Jens Spahn (CDU) eingesetzt. Das finde ich auch gut. Aber das ist etwas anderes, als Leiter eines täglich agierenden Krisenstabs zu sein, dessen Aufgabe es ist, nicht nur Informationen zu sammeln und auszuwerten, sondern auch operativ zu organisieren und die Umsetzung nachzuhalten. Wenn wir genauer wissen, wer von welchen rechtlichen Möglichkeiten denn auch tatsächlich Gebrauch macht, könnte das zu einer Versachlichung der Debatte beitragen und ein besseres Lagebild ergeben. Das macht bessere Entscheidungen möglich. Deshalb glaube ich, dass sich dieser neue Krisenstab qualitativ schon sehr von dem unterscheidet, was es bisher gab.
Frage: Er soll ja auch die Länder einbeziehen und koordinieren. Erhoffen Sie sich dadurch eine schwindende Bedeutung der Ministerpräsidentenkonferenz?
Buschmann: Ich erhoffe mir als Erstes, dass wir möglichst schnell die vierte Welle brechen und die Pandemie in den Griff bekommen. Für mich ist entscheidend: Grundrechtsrelevante Entscheidungen sind im Parlament zu fällen. Ansonsten kann sich jeder mit jedem austauschen.
Frage: In der Debatte über eine allgemeine Impfpflicht haben Sie Ihre Meinung geändert. Warum?
Buschmann: Zunächst einmal habe ich einen Verfahrensvorschlag gemacht. Das Thema allgemeine Impfpflicht wird ja sehr emotional diskutiert. Das ist vergleichbar mit anderen medizinisch-ethischen Debatten, die an Grundüberzeugungen rühren: Denken Sie an Schwangerschaftsabbrüche. Denken Sie an die Sterbehilfe. Beides haben wir im Wege von Gruppenanträgen im Bundestag und damit ohne Fraktionsbindung diskutiert. Dann hat jeder Abgeordnete seine Gewissensentscheidung getroffen. Ich habe den Vorschlag gemacht, das jetzt wieder zu tun. Olaf Scholz hat das aufgegriffen. Die Vergangenheit hat auch gezeigt, dass dieses Verfahren häufig auch eine befriedende Wirkung entfaltet hat.
Frage: Was sagt Ihr Gewissen?
Buschmann: Der Abgeordnete Buschmann wird eine klare Entscheidung treffen, sobald die konkreten Gruppenanträge vorliegen. Aber eines kann ich schon jetzt sagen: Ich bin sehr nachdenklich dadurch geworden, dass wir in unserem Land einen der besten Impfstoffe entwickelt, aber dennoch eine so niedrige Impfquote haben. Die Wissenschaft sagt uns, dass wir eine Quote von 85 Prozent in der Bevölkerung brauchen, damit wir aus dem Auf und Ab der Wellen herauskommen. Ich habe mir immer erhofft, dass wir die auf freiwilligem Wege durch Aufklärung schaffen. Jetzt aber stelle ich mir die Frage: Gelingt das? Und verträgt diese Gesellschaft noch mal einen solchen Herbst und Winter mit einer drohenden Stilllegung des öffentlichen Lebens und einer Gesundheitsversorgung am Limit?
Frage: Griechenland hat gerade eine Impfpflicht für über 60-Jährige eingeführt.
Buschmann: Das ist korrekt, und es gibt auch viele Kollegen, die über eine solche differenzierende Lösung nachdenken. Man spricht auch von gestaffelter Impfpflicht. Das ist auch plausibel. Denn aus der Statistik wissen wir, dass das Risiko, im Falle einer Infektion intensivmedizinisch behandelt zu werden zu müssen, ab dem 60. Lebensjahr deutlich steigt.