LINDNER/LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER-Gastbeitrag: Europas Macht gegen die antiliberalen Kräfte
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner und Bundesjustizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger schrieben für die „Welt“ (Donnerstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Weltweit gedeihen Populismus, Nationalismus und Autoritarismus. Mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist kaum mehr die Rede von einem Siegeszug der liberalen Demokratie. Die Idee, dass immer mehr liberale Demokratien gemeinsame Regeln für die Welt gestalten, scheint 2020 weiter entfernt als 1989/90. Die USA, einst globaler Vorreiter für Demokratie, Freihandel und Menschenrechte, stecken tief in der Krise. Lange noch wird die Wirkung von Regelbrüchen im Völkerrecht nachhallen und Nachahmer finden. Was passiert mit der Idee einer multilateralen, regelbasierten Weltordnung? Zumindest der nüchterne Blick auf die Welt zeigt, dass mit China und Russland zwei Akteure beständig ihren globalen Einfluss ausbauen, die die „antiliberale Konterrevolution“ (Timothy Garton Ash) nach Kräften fördern.
Aber der Drang der Menschen nach Freiheit, Teilhabe und Selbstbestimmung ist ungebrochen. Arabischer Frühling, Orangene Revolution in der Ukraine, oppositionelle Kräfte in Russland, Regenschirm-Demonstrationen in Hongkong und unermüdliche Demonstrationen in Minsk sind ein mächtiges Symbol des Strebens nach Freiheit.
Dieser Mut! Zehntausende Demonstranten gehen täglich gegen autoritäre Regime auf die Straße, die weder Demokratie noch Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit achten. Sie werden oft mit brutaler Gewalt niedergeschlagen und willkürlich in Haft genommen. Alexej Nawalny, der bekannteste russische Oppositionsführer, hat sich nie einschüchtern lassen.
In Putins Russland herrscht die Straflosigkeit von Gewaltverbrechen gegen politische Oppositionelle. Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny markiert eine tiefe Zäsur in den ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Russland, Deutschland und der EU. So wichtig diplomatische Kanäle und Gespräche sind, so müssen doch endlich außenpolitische Taten folgen. Notwendig sind individuelle Sanktionen gegen diejenigen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Nach dem Vorbild des „Magnitsky Acts“ sollte mit Einreiseverboten und dem Einfrieren privaten Vermögens Druck ausgeübt werden. Darüber hinaus ist ein sofortiges Moratorium für den Weiterbau des gemeinsamen Pipelineprojekts Nord Stream 2 mit Russland notwendig.
In Europas Hauptstädten wissen alle um diese Zäsur. Indes: Außenpolitik wird immer noch zuerst national gedacht, von der Verteidigung ganz zu schweigen. In den vergangenen 30 Jahren gab es immer wieder Anläufe für eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik. So wie die Abkürzungen, Initiativen und Strukturen sich dafür verwandelten, so trostlos fällt der Befund aus.
Auf der praktischen Ebene herrscht oft nur der kleinste gemeinsame Nenner. Die Einstimmigkeit lähmt alles und vieles. Hier und da gibt es einmal Sanktionen, im Falle der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion, genauso wie jetzt gegen einige Beteiligte des Lukaschenko-Regimes. Dafür prägen immer wieder Konflikte zwischen Nord und Süd, Ost und West die EU-Politik.
Aber die Idee, dass Europa nur mit einer Stimme in der Welt Gehör finden kann, ist nicht auf der Agenda dieser Bundesregierung. Jahrelang warb Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vergeblich für einen Neustart des deutsch-französischen Motors. Und außer einem Milliarden-Rettungspaket kam wenig dabei heraus. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Willy Brandt/Walter Scheel und Helmut Kohl/Hans-Dietrich Genscher als ehrliche Makler für ein geeintes Europa wirkten. Es war eine Zeit, in der die Welt in zwei Blöcke zerfiel.
Erleben wir eine Art neuen Kalten Krieg? China ist unter Xi Jinping zur imperialen Macht herangewachsen. Es tritt in der eigenen Nachbarschaft aggressiv auf und baut weltweit seinen Einfluss aus. Wo Peking keine Fakten schaffen kann, versucht es zu spalten und spielt europäische Partner gegeneinander aus. In Hongkong wurde das völkerrechtlich zugesicherte Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ durch die Verabschiedung des neuen Sicherheitsgesetzes quasi außer Kraft gesetzt.
Das neue Sicherheitsgesetz hat die Lage in Hongkong dramatisch verschärft. Wer sich für Demokratie und Rechtsstaat in Hongkong einsetzt, ist der Gefahr des Zugriffs von Sicherheitskräften ausgesetzt. Deswegen sah sich die Friedrich-Naumann-Stiftung nicht mehr in der Lage, das Büro in Hongkong aufrechtzuerhalten.
China hält sich an Vereinbarungen nur so lange, bis es in der stärkeren Position ist. Aus diesem Verhalten müssen wir lernen und Konsequenzen ziehen. Das Prinzip der „Ein-China-Politik“ darf einer stärkeren Unterstützung des demokratischen Taiwan nicht entgegenstehen. Dessen internationale Isolierung muss beendet und die Freiheit im Verbund mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien garantiert werden. China ist heute ein aggressiver Hegemon, wie es die Sowjetunion einst war.
Ein starkes Europa kann dem seine Werte entgegensetzen – und seine Macht. Als Wertegemeinschaft muss Europa illiberale Staaten weder finanzieren noch aufnehmen. Gegenüber Ungarn und Polen muss Klartext gesprochen werden. Dazu gehören zwingend neue Mechanismen für die EU-Mittelvergabe.
Wer Rechtsstaat und Demokratie abgeschafft hat (wie Viktor Orban in Ungarn) oder es versucht (wie die PiS-Regierung in Polen), darf nicht weiter regimetreue Vasallen durch EU-Mittel versorgen. Wie hält es Europa mit Waffenexporten nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate? Wieso werden immer wieder digitale Überwachungswerkzeuge in autoritäre Staaten exportiert? Warum werden nicht illegal erworbene Vermögen, die nach Europa geschafft worden sind, eingefroren? Alexej Nawalny hat fast mit seinem Leben bezahlt, weil er die grassierende Korruption in Russland geißelt.
Ein Sitz für die EU im Sicherheitsrat, Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik, eine gemeinsame Verteidigungspolitik: Europa kann seine Macht einsetzen. Die „antiliberale Konterrevolution“ braucht ein mutiges Gegengewicht.