LINDNER-Rede: Offen, ob Merkel in einem Atemzug mit Kohl oder Kiesinger genannt werden wird
Bearbeitete Mitschrift der Rede des FDP-Fraktionsvorsitzenden Christian Lindner in der Generalaussprache zur Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel:
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Helmut Kohl regierte 16 Jahre. Er war ein großer Kanzler, der sich um Europa und Deutschland historische Verdienste erworben hat.
Am Ende dieser Wahlperiode werden auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, 16 Jahre regiert haben. Aber der Charakter Ihrer Kanzlerschaft ist offen, und Sie selbst sind dafür die beste Zeugin. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Regierungschefin gehört zu haben, die so oft gesagt hat: „Seien wir ehrlich“, „Sagen wir die Wahrheit“. Das wirft Fragen nach den vergangenen zwölf Jahren auf.
Der Charakter der Kanzlerschaft ist offen. Werden Sie Europa in der Sicherheits- und Migrationspolitik handlungsfähig machen oder neue Fliehkräfte durch falsche Weichenstellungen in der Währungsunion entfachen? Können Sie den durch Ihre Flüchtlingspolitik entstandenen Vertrauensverlust durch eine vernünftige Einwanderungs- und Integrationspolitik überwinden? Werden Sie die wirtschaftliche Stärke dieses Landes nur verbraucht haben oder die Wettbewerbsfähigkeit sichern? Werden Sie unsere Gesellschaft für die Zukunft gestärkt haben oder den Sozialstaat mit einer Hypothek übergeben?
Werden wir nach Ihrer Amtszeit das digitale Neuland betreten haben oder hinnehmen müssen, dass Südkorea und viele andere Gesellschaften uns abgehängt haben?
Diese Fragen entscheiden über den Charakter Ihrer Kanzlerschaft. Nach Ihrer Regierungserklärung bleibt offen, ob Sie dereinst in einem Atemzug mit Kohl genannt werden oder mit Kiesinger, auf den die wirkliche Erneuerung des Landes folgen musste.
Frau Bundeskanzlerin, wir wünschen Ihnen und Ihrer Regierung bei Ihren Vorhaben im Interesse des Landes Erfolg.
Wir haben Spannendes gehört. Beispielsweise nannte Horst Seehofer Ihre Politik einst die „Herrschaft des Unrechts“. Nun ist er in Ihr Kabinett eingetreten. Er hat als Kabinettsmitglied angekündigt, dass er Abschiebungen forcieren will und dass er die Kontrolle der Grenzen sicherstellen möchte. Herr Seehofer, Ihr niedersächsischer SPD-Amtskollege Boris Pistorius hat Sie einen „Anscheinerweckungspolitiker“ genannt. Ich kann Ihnen versichern: Wenn Sie das Recht durchsetzen wollen, dann werden wir Sie vor jeder Kritik der SPD in Schutz nehmen. Da dürfen Sie sich auf uns verlassen.
Das Ziel kann aber nicht die Rückkehr zu Schlagbäumen in Europa sein, sondern Ziel muss die Kontrolle der europäischen Außengrenze sein.
Diese Regierung, Herr Minister Seehofer, führt auf Ihre Initiative allerdings auch eine Debatte darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört.
Wem nützt diese Uneinigkeit? Was soll aus dieser Debatte und der Antwort – welche es auch immer geben wird – für die Millionen Muslime, die seit Jahrzehnten in unserem Land leben, tatsächlich folgen?
Herr Minister Seehofer, Sie könnten sich bleibende Verdienste erwerben, wenn sich die CSU endlich ihren eigenen Dämonen stellen würde. Machen Sie den Weg frei für ein wirklich weltoffenes Einwanderungsgesetz und eine Integrationspolitik, die Religionen nicht gegeneinander ausspielt, sondern die republikanischen Werte des Grundgesetzes ins Zentrum stellt!
Die erlauben keinen Rabatt; denn die Werte sind eben nicht konfessionell gebunden.
Der Gesundheitsminister Jens Spahn – auch das war spannend – hat eine Debatte eröffnet, um den Sozialstaat treffsicherer zu machen.
Dafür hat er Widerspruch erhalten – nicht nur von den Grünen, die die Gelegenheit genutzt haben, um sich vom Prinzip des Förderns und Forderns der Agenda 2010 zu verabschieden, und dokumentiert haben, dass sie in Fragen der Sozialpolitik – das ist ja legitim – der Linkspartei näher stehen als der SPD, sondern auch aus den eigenen Reihen, aus der Union.
Was ist aber falsch an der Debatte, die Herr Spahn eröffnet hat? An der Debatte ist nichts falsch. Es stellt sich nur die Frage nach der Konsequenz.
In der Tat: Hartz IV sichert ein Existenzminimum. Sollte es das Existenzminimum nicht sichern, dann müsste man fragen, was Frau Nahles in den vergangenen vier Jahren gemacht hat.
Dennoch kann sich niemand mit Hartz IV zufriedengeben, und deshalb müsste die Regierung doch den Impuls von Herrn Spahn aufnehmen, den Sozialstaat aktivierend neu ausgestalten und dafür sorgen, dass sich jede Stunde zusätzlicher Arbeit für einen Hartz-IV-Empfänger auch wirklich lohnt. Das wäre ein Beitrag zur Leistungsgerechtigkeit.
Die neue Internetbeauftragte Dorothee Bär hat uns Flugtaxis versprochen. Auch das war spannend. Das ist auch eine wünschenswerte Vision für alle Staugeplagten in Deutschland. Andi Scheuer wäre alle Sorgen und Probleme auf einen Schlag los.
Wie wäre es, wenn wir zunächst mit den Basics beginnen würden, also schnellem Internet oder papierloser Verwaltung, und zwar nicht erst 2025? Dazu sind eine Bündelung von Kompetenzen, klare Zuständigkeiten, personelle Kapazitäten notwendig. Die Regierung weiß selbst, dass bei wichtigen, prioritären Vorhaben die Kräfte gebündelt werden müssen. Aus diesem Wissen hat die Regierung aber kein Digitalministerium gemacht, sondern das, was Horst Seehofer selbst ein „Heimatmuseum“ nennt.
Manchmal muss man nicht kritisieren, manchmal muss man nur zitieren.
Im Koalitionsvertrag gibt es indessen zweimal Positives zu würdigen und das darf hier bei einer Regierungserklärung und der Aussprache dazu nicht unerwähnt bleiben:
Erstens gibt es eine Bereitschaft zur Reform des Bildungsföderalismus. Das war am Veto des Grünen Winfried Kretschmann in einer traumatisierenden Phase meines Lebens im vergangenen Jahr gescheitert.
Frau Nahles, ich will Ihnen sagen: Die Freien Demokraten werden die von der Großen Koalition geplante Änderung des Grundgesetzes natürlich unterstützen.
Klar ist aber: Das ist nur ein erster, zaghafter Schritt in die richtige Richtung. Deutschland braucht viel mehr Mobilität, mehr Vergleichbarkeit, mehr Qualität zwischen und in den 16 Bildungssystemen, um tatsächlich international Anschluss zu finden.
Der Digitalpakt der Bundesregierung ist indessen noch nicht in trockenen Tüchern; das muss hier heute gesagt werden. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben bei der letzten Konferenz mit den Ministerpräsidenten am 1. Februar 2018 eingeräumt, dass die 3,5 Milliarden Euro für den Digitalpakt im Koalitionsvertrag noch nicht mit Haushaltsmitteln hinterlegt sind. Das muss man realisieren: Die Mütterrente kommt ganz sicher, die Bildung aber steht unter Finanzierungsvorbehalt. Sie haben gesagt, Sie wollten im Land Spaltungen verhindern und den Zusammenhalt stärken. Eine Politik, die die Großmütter gegen die Enkel ausspielt, spaltet aber das Land.
Zweitens. Wir würdigen den neuen Klimarealismus der Koalition: Die Ziele des Jahres 2020 sind physikalisch nicht zu erreichen. Im vergangenen Jahr war dies umstritten.
Aber jetzt fehlt der notwendige nächste Schritt, nämlich innovative und realistische Wege, um wenigstens die Ziele des Jahres 2030 zu erreichen. Dazu ist eine Wende nötig. Statt Planwirtschaft am Reißbrett braucht unser Land einen marktwirtschaftlichen Weg. Also, statt Quoten, Verboten und Subventionen sollten wir den Innovationsmotor der sozialen Marktwirtschaft anwerfen. Welcher Antrieb der beste ist, das muss wieder eine Frage von Technikern werden und darf keine von Technokraten bleiben.
Über 200 Stellen schafft die Regierung für sich selbst im Regierungsapparat. Jenseits des parteipolitischen Bodenturnens charakterisiert das diese Koalition. Der SPD reichen die Mittel des ehemaligen Vizekanzlers Gabriel nicht aus, es muss aufgestockt werden. Horst Seehofer baut mit dem Heimatministerium ein zweites Vizekanzleramt. Das ist offensichtlich ein Ausdruck von Misstrauen innerhalb der Regierung. Und es entlarvt, wie Sie Unterschiede überwunden haben: nicht durch Richtungsentscheidungen, sondern durch Geld.
Peter Altmaier hat innerhalb von wenigen Wochen Milliarden aus dem Hut gezaubert. Gegenüber den Jamaika-Verhandlungen hat er innerhalb weniger Wochen Milliarden an zusätzlichen Euro gefunden. Man wünscht ihn sich als privaten Vermögensverwalter.
Niemals zuvor hatte eine Regierung einen solchen Verteilungsspielraum wie Sie. Dennoch reicht er nicht, um alle Ihre Ausgabenwünsche zu finanzieren. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln beziffert das drohende Defizit im Jahre 2021 auf 20 Milliarden Euro. Wenn Olaf Scholz nicht aufpasst, dann wird er als der Finanzminister in die Geschichte des Landes eingehen, der es geschafft hat, den Staatshaushalt zu Boomzeiten zu ruinieren.
Wo sind die Antworten auf die neuen Herausforderungen? Wir begrüßen die neue Flexibilität am Arbeitsmarkt; wir begrüßen die Konzentration auf innovative Technologien und Bildung; wir begrüßen die spürbare Entlastung der breiten Mitte des Landes – in Frankreich.
Hierzulande geht es um Mietpreisbremsen, um die Einschränkung der Vertragsfreiheit am Arbeitsmarkt. Es geht um die Erhöhung der Abgeltungsteuer, die Verlängerung des Solidaritätszuschlags und, wie Sie selbst eingeräumt haben, die absehbare Steigerung des Rentenversicherungsbeitrags im nächsten Jahrzehnt.
Also, die Bürokratie, die Macron abbaut, wird in Deutschland aufgebaut. Die Entlastungen, die Frankreich beschließt, bleiben in Deutschland aus. 15 Jahre nach der Agenda 2010 kann man sagen: Frankreich ist dabei, deutscher zu werden, und Deutschland ist dabei, französischer zu werden. So haben wir uns die deutsch-französische-Annäherung aber nicht vorgestellt, Frau Bundeskanzlerin.
Europa ist ein Friedensprojekt – Sie haben es zu Recht betont –, auch angesichts der Herausforderungen durch China, die Türkei und Russland. Deshalb müssen die Fliehkräfte durch eine andere Migrations- und Sicherheitspolitik bewältigt werden. Die Gefahr aber besteht, dass durch falsche Entscheidungen in der Währungspolitik neue Fliehkräfte entstehen. Deutschland hängt hier an den Lippen Frankreichs. Der Weg von Wolfgang Schäuble wird absehbar verlassen.
Sie selbst haben davon gesprochen, der Euro-Raum benötige zusätzliche Finanzmittel für wirtschaftliche Konvergenz. Das ist eine diplomatische Umschreibung für Transferunion, für Finanzausgleich und Umverteilung.
Das ist wichtig, zu sagen; denn auch unsere Partner in den Niederlanden, in den skandinavischen Ländern und im Baltikum sehen diese Politik kritisch. Sie erinnern an die finanzpolitische Eigenverantwortung. Man möge nur das Interview des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte dieser Tage lesen. Es spaltet Europa, wenn die finanzpolitische Eigenverantwortung infrage gestellt wird.
Und weil Sie über die Bankenunion gesprochen haben, Frau Merkel: Wenn Sie tatsächlich die Einlagensicherung beschließen und die Kunden von Sparkassen und Volksbanken in Deutschland für instabile Institute anderswo in Europa in Mithaftung geraten, dann stärkt das den europäischen Gedanken nicht; dann trägt das vielmehr einen Spaltpilz in das europäische Einigungsprojekt.
Ich begrüße, dass Frau Nahles und die Frau Bundeskanzlerin über den Freihandel gesprochen haben. Aber dann beschließen Sie doch das CETA-Abkommen! Ratifizieren Sie es!
Dann fahren Sie doch, Frau Merkel, nach Washington zu Herrn Trump und sprechen Sie über einen neuen Deal! Holen Sie TTIP aus dem Eisschrank heraus, und sorgen Sie dafür, dass es einen freien Handel gibt!
Man kann mit Herrn Trump sprechen. Man kann mit Herrn Trump Deals erzielen. Was die Nordkoreaner geschafft haben, schaffen Sie schon lange, Frau Bundeskanzlerin.
Ich komme zu einem letzten, abschließenden Gedanken. Diese Koalition hat von sich gesagt, sie sei eine Koalition der kleinen Leute – Herr Seehofer nickt. Ich kenne in diesem Land Bürgerinnen und Bürger mit geringem Einkommen.
Warten Sie ab! Ihre Reaktion spricht bereits Bände. Ich kenne Bürgerinnen und Bürger, die bedürftig und auf Hilfe und Solidarität angewiesen sind. Aber wissen Sie, was es in unserem Land nicht gibt? Es gibt keine kleinen Leute, auf die eine Regierung von oben herabschauen kann. Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän und verdienen Respekt.