LINDNER-Gastbeitrag: Überforderung des Systems
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner schrieb für das „Handelsblatt“ (Donnerstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Das Modell der deutschen Sozialversicherungen hat sich seit mehr als 100 Jahren bewährt. Andere Länder beneiden uns darum. Unsere Sozialkassen werden nicht aus Steuermitteln, sondern aus Beiträgen finanziert. Es gibt gute Gründe dafür: Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen die gesetzlichen Versicherungen in Selbstverwaltung. Dies schützt vor direkter politischer Einflussnahme. Die Sozialversicherungen können so nicht ohne Weiteres zum Spielball von Regierenden werden.
Seit Jahren vollzieht sich aber ein schleichender Systemwechsel, der uns mit Sorge erfüllen muss – weg vom deutschen Versicherungsmodell, hin zum steuerfinanzierten Wohlfahrtsstaat. Bei der Rente können wir diesen Wandel schon länger beobachten: Mit dem Rentenpakt von 2018 legte die Bundesregierung die Axt an ein Grundprinzip der Sozialversicherungen, wonach ein Anspruch auf Leistungen an entsprechende Einzahlungen gekoppelt sein muss. Die Rentenversprechen der Koalition werden voraussichtlich allein im Jahr 2035 80 Milliarden Euro an Steuermitteln kosten. Auch die Grundrente wird mit 1,5 Milliarden Euro jährlich aus Steuern finanziert werden. Schon heute fließen mehr als 100 Milliarden Euro an Steuergeldern in die Rente.
Nun droht ein solcher Systembruch auch in der Pflegeversicherung. Quasi im Vorbeigehen wurde er von Gesundheitsminister Jens Spahn durch ein Zeitungsinterview angekündigt. Der Eigenanteil an den Pflegekosten soll zeitlich und in der Höhe begrenzt werden. Finanziert werden soll das durch zusätzliches Geld der Steuerzahler. Was zunächst gut klingen mag, verbessert die Lage von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen in Wahrheit nicht. Ein solcher Schritt wäre vielmehr ein massiver Angriff auf die Generationengerechtigkeit. Er würde auch künftigen Steuererhöhungen Tür und Tor öffnen.
Der erneute Bruch mit bewährten Prinzipien wird besonders deutlich, wenn man das Modell für Millionen von Bürgerinnen und Bürgern durchspielt, die nicht Teil der gesetzlichen Pflegeversicherung, sondern der privaten Pflege-Pflichtversicherung sind: Diese werden zusätzlich zu ihren eigenen Pflegebeiträgen mit Steuerzahlungen an der Finanzierung der gesetzlichen Versicherung beteiligt. Ein Anspruch auf Leistungen resultiert daraus aber nicht.
Der Wechsel hin zu einer Vollkaskoabsicherung wird das System langfristig überfordern. Verantwortlichkeiten werden vermischt, Finanzströme können nicht mehr nachvollzogen werden. Das verstößt nicht nur gegen das Prinzip der Generationengerechtigkeit. Es kann auch auf die Dauer nicht gut gehen. Schon Wilhelm Röpke, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, warnte, dass der Sozialstaat nicht ein Tag und Nacht arbeitendes Pumpwerk der Einkommen werden dürfe. Andernfalls würden die Prinzipien von Leistungsgerechtigkeit und Eigenverantwortung ausgehebelt.
Dabei führt an individueller Vorsorge auch in Zukunft kein Weg vorbei. Die Voraussetzungen dafür sind prinzipiell auch gut. Vor allem in der Pflegeversicherung bleibt ein recht langer Zeitraum für das Ansparen von Anwartschaften. Auch Jens Spahn betont, wie wichtig private Vorsorge ist. Ich will ihn bestärken, hier den Schwerpunkt zu setzen: Wir brauchen eine Stärkung kapitalgedeckter Instrumente, etwa durch mehr betrieb liehe Pflegeversicherungen. Notwendig ist der Abbau von Hürden bei der Vermögensbildung, beispielsweise durch die Abschaffung der Abgeltungsteuer nach bestimmten Haltefristen. Und wir brauchen ein Steuersystem, das den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiräume für individuelle Vorsorge lässt.
In Deutschland sind wir inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem wir bei bald jedem Problem pauschal sagen, dass der Staat einspringen muss – statt zu überlegen, wie man das System verändern kann. Einsparpotenzial durch Digitalisierung und Entbürokratisierung bleibt in der Pflege ungenutzt. Die Länder kommen ihren Investitionsverpflichtungen in den Pflegeeinrichtungen nicht nach, wodurch diese ihre notwendigen Ausgaben auf die Bewohner umlegen. Anders als in anderen Bereichen müssen die Pflegebedürftigen faktisch für die Ausbildungskosten von Pflegern aufkommen. Die medizinische Behandlungspflege wird fachfremd aus der Pflege- statt der Krankenversicherung gezahlt. Allein durch Reformen an diesen Stellschrauben könnten die Eigenanteile sofort und langfristig um einige Hundert Euro gesenkt werden.
Wir wollen diese Herausforderungen annehmen und das Problem lösen, statt mit Steuergeld Löcher kurzfristig zu stopfen. Stattdessen geht die Koalition den leichten Weg und entscheidet sich für vermeintliche Wohltaten ohne Gegenfinanzierung. Sie tut dies zulasten der Prinzipien unserer Sozialversicherungen und der Generationengerechtigkeit. Doch die Zeche wird bald schon zu zahlen sein.