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LAMBSDORFF/BUDE-Streitgespräch: Enteignung von Wohnraum geht definitiv zu weit
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff und der Soziologe Heinz Bude im Streitgespräch für die „Wirtschaftswoche“ (aktuelle Ausgabe). Die Fragen stellte Elisabeth Niejahr:
Frage: Herr Lambsdorff, Herr Bude, wann haben Sie sich zuletzt solidarisch verhalten?
Bude: Das ist noch nicht lange her. Wir trinken zu Hause Wasser aus Glasflaschen und wollten uns die Kisten nach Hause liefern lassen. Also haben wir versucht, einen Lieferservice zu finden, der seine Leute anständig bezahlt.
Frage: War es schwierig, einen zu finden?
Bude: Wir haben tatsächlich einige Zeit investiert. Am Ende sind wir dem Rat von Nachbarn gefolgt. Mir ist noch einmal klar geworden, wie schwer vorstellbar es ist, dass Roboter oder Drohnen in absehbarer Zeit Aufgaben wie die Lieferung von Glasflaschen übernehmen. Ich bin sicher: Wir werden uns auch in 50 Jahren noch mit einfachen Dienstleistungen und ihrer Bezahlung beschäftigen.
Lambsdorff: Man muss nur aus dem Fenster schauen, um zu wissen, dass in Städten wie Köln, Berlin oder Leipzig Lieferungen niemals überwiegend aus der Luft stattfinden werden. Der Himmel wäre ja schwarz von Drohnen. Aber dieselbe Technologie kann unter anderen Umständen segensreich sein. Ich war vergangene Woche in Myanmar. Der Norden dieses Landes liegt am Himalaya, da sind ständig Erdrutsche, Dörfer werden von der Außenwelt abgeschnitten. Wenn sie damit Drohnen eine Grundversorgung herstellen oder Katastrophenhelfern den Weg bahnen, ist das eine Riesenhilfe.
Frage: Herr Bude, Sie diagnostizieren ein weltweites Comeback der Idee der Solidarität. Erklären Sie so auch gegenwärtige Umverteilungsdebatten? Etwa die Forderung, große Wohnungsbesitzer zu enteignen?
Bude: Ich gehe viel weiter: Meine Belege heißen Viktor Orbán, Brexit oder auch Gelbwesten-Proteste in Frankreich ...
Frage: ... alles keine linken Personen oder Bewegungen, die man traditionell mit dem Begriff der Solidarität verbunden hätte.
Bude: Genau. Das Thema des Augenblicks in allen westlichen Gesellschaften ist nicht Freiheit, sondern Schutz. Alle wollen ihn: die Stahlarbeiter in den USA, die Seeleute wegen der Überfischung der Meere, die Eltern wegen ihrer Kinder und so weiter. Wir erleben einen epochalen Wechsel: weg vom Thema des Individuums und seiner Freiheit hin zu der Idee eines eingebetteten Individuums, das in der Gemeinschaft Schutz sucht. Davon profitieren momentan rechte Bewegungen, während die politische Linke diesem Prozess eher hilflos zusieht.
Lambsdorff: Es gibt in vielen Ländern ein völkisch aufgeladenes Solidaritätsversprechen – die Diagnose teile ich. Man muss sich ja nur umschauen: Trump, Le Pen, Lega oder AfD machen alle dieses Schutzversprechen, das übrigens neben der Ablehnung der offenen Gesellschaft immer auch mit der Ablehnung offener Märkte einhergeht.
Frage: Wie stark ist diese Schutzsuche ökonomisch bedingt?
Lambsdorff: Wir leben in einem Epochenwandel, dem Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter. Dazu gehören teilweise neue Arbeitsverhältnisse, die mit sozialen Mindeststandards nicht zusammenpassen. Automatisierung und Globalisierung sorgen für Verunsicherung. Ich glaube nur, dass politische Bewegungen, die zuvörderst den Schutz für verunsicherte Gruppen ins Schaufenster stellen – sei es in der völkisch-nationalen Variante oder in der sozialistisch-klassenkämpferischen Variante – in die Sackgasse führen, gesellschaftlich wie ökonomisch.
Frage: Mehr Single-Haushalte, stärkeres Betonen des Besonderen – spricht das nicht gegen ein Ende des Individualismus?
Bude: Ich glaube, dass der Höhepunkt hinter uns liegt. Das Zeitalter des starken Einzelnen hat auch zu einer neuen Sehnsucht nach Bindungen geführt. Bei den Werten von Menschen unter 20 steht auf Platz eins Freundschaft – nicht Glück, Reichtum, Erfolg oder Liebe.
Lambsdorff: Den Gedanken finde ich interessant. Gleichzeitig gibt es allerdings auch in allen westlichen Gesellschaften Menschen, die sagen: Lasst uns mit eurem Schutz in Ruhe – übertreibt es jedenfalls nicht. Deshalb haben wir in Europa acht liberale Premierminister, deshalb liegt in Spanien eine liberale Partei in den Umfragen bei 20 Prozent, deshalb ist die FDP mit fast elf Prozent in den Bundestag zurückgekehrt.
Bude: Auch die FDP hat sich verändert. Aber das Zeitalter des Glaubens an das Vermögen des Einzelnen, das mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan begann und sich mit Tony Blair, Gerhard Schröder und teilweise auch Angela Merkel fortsetzte, geht seinem Ende entgegen.
Lambsdorff: Da bin ich mir nicht so sicher. Für das Ideal einer dynamischen, aber auch solidarischen Gesellschaft standen schon Liberale wie der Soziologe Ralf Dahrendorf, das ist für uns nicht neu. Er sagt, dass eine freiheitliche Gesellschaft keine Anarchie sein darf, sondern durch Bindungen zusammengehalten werden muss. Die im politischen Alltag zu definieren und zu konkretisieren ist unser Job als Abgeordnete – und als Liberale müssen wir dafür sorgen, dass aus Bindungen keine Fesseln werden.
Frage: Ist es für eine Partei, die das Wort Freiheit im Namen trägt, nicht irritierend, wenn die Gegenbewegung stärker wird?
Lambsdorff: Das Zutrauen, dass der Einzelne etwas schaffen kann, ist nicht verschwunden – und der Bedarf an Politik, dafür auch den Weg freizuräumen: gegen zu hohe steuerliche Belastung, Bürokratismus, Überregulierung, Verteuerung des Faktors Arbeit. Dafür gibt es immer noch Wähler, glücklicherweise.
Frage: Das individuelle Aufstiegsversprechen – streng dich an, weil es dir und dem Land nützt – hat die alte Bundesrepublik geprägt. Warum hat es an Strahlkraft verloren?
Lambsdorff: Lange war der soziale Aufstieg Einzelner in historisch einzigartiger Weise mit dem Wiederaufstieg des ganzen Landes organisch verbunden. Aus den Trümmern von Köln, Hamburg und Stuttgart entstand die Bundesrepublik mit ihrer sozialen Marktwirtschaft. Die Vertreter der Aufbaugeneration sind aber jetzt im Ruhestand oder leben nicht mehr.
Bude: Die Aufstiegsgeschichten der alten Bundesrepublik waren mit einer kollektiven Kriegsfolgenbetroffenheit verbunden. Damals war klar: Das Schlimmste, was passieren kann, liegt hinter uns: Krieg, Völkermord. Für die Jungen stimmt das oft nicht, jedenfalls fürchten sie, dass Schlimmes vor uns liegt. Dadurch wird die Anknüpfung an andere existenzieller. Gleichzeitig gibt es weniger Kollektive wie Gewerkschaften oder Parteien, die als attraktiv gelten. In Zukunft kann Solidarität nur aus dem Bedürfnis des Einzelnen kommen – und nicht wie früher aus dem Kollektiv der Unterdrückten.
Frage: Zeigt das Thema nicht, wie sich das Klima verändert? Dass Grünen-Chef Robert Habeck Enteignungen befürwortet, schadet der Partei bislang überhaupt nicht.
Lambsdorff: Das Problem an der Sache ist: Unter Solidarität wird sehr Unterschiedliches verstanden. Falls Sie darunter nicht Verantwortung im Sinne der katholischen Soziallehre verstehen, sondern wie Habeck die Enteignung von Wohneigentum, dann erreicht man kein gemeinsames Verständnis des Begriffs der Solidarität. Enteignung von Wohnraum – das geht definitiv zu weit! Mich hat erstaunt, dass selbst die Berliner CDU schon erklärt hat, dass sie das Ergebnis des Volksbegehrens zum Thema Enteignung akzeptieren würde.
Frage: Herr Bude, Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie der Zusammenhalt unter Kollegen aus der Arbeitswelt des Industriezeitalters verschwindet. Ist das unumkehrbar, wenn doch gleichzeitig ein Bedürfnis nach Solidarität besteht?
Bude: Ich glaube, dass es hier nicht nur um ein organisatorisches, sondern auch um ein inhaltliches Problem geht – um den Zusammenhang von Solidarität und Gerechtigkeit. Der klassische Begriff der Arbeiterbewegung war nicht Gerechtigkeit, sondern Solidarität – nicht das Versprechen, jeder bekomme, was ihm zustehe, sondern das Ziel, füreinander einzustehen und damit Erfolg zu haben. Vor allem die Sozialdemokraten sollten Solidarität für sich entdecken.