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LAMBSDORFF-Interview: Wir müssen irgendwann Klarheit haben
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzenden Alexander Graf Lambsdorff gab dem „ZDF-Morgenmagazin“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Harriet von Waldenfels:
Frage: Wer hält denn in Großbritannien eigentlich gerade das Heft in der Hand? Premierminister Boris Johnson oder das britische Parlament?
Lambsdorff: Na ja, am Ende des Tages das britische Parlament, in dem Johnson ja keine Mehrheit hat. Das heißt, es kommt darauf an, dass er Abtrünnige gewinnt. Abtrünnige von der Labour-Partei, die Tories, die er vorher vergrätzt hat. Die müssen alle wieder zurückkehren zu ihm. Und nur wenn er das schafft, dann wird er durchkommen mit seinem Anliegen, den Brexit wirklich am 31. Oktober umzusetzen. Wenn das Parlament sich sperrt, dann nicht. Und wir haben es ja gerade gehört: Das Parlament ist bereit, in diesem Nervenkrieg auch in einer Art Guerillataktik zu verfallen, also Anträge zu stellen, Verzögerungen und so weiter und so weiter. Der Ausgang ist völlig offen.
Frage: Was würden Sie denn Deutschland und den anderen EU-Ländern raten in dieser Situation? Sollte man der britischen Regierung noch einmal einen Aufschub gewähren? Denn viele sagen ja schließlich, Europa sei den Briten mit dem Deal schon sehr weit entgegengekommen.
Lambsdorff: Also, jetzt im Moment gilt: Abwarten und Tee trinken, in guter britischer Manier. Denn erst mal muss sich das in London sortieren. Wenn es aber klar ist, dass Boris Johnson keine Mehrheit bekommt, dann muss die Verlängerung auch diskutiert werden. Und dann muss ich sagen, liegt ja der Schlüssel eigentlich in Frankreich. Emmanuel Macron und seine Europaministerin haben schon gesagt, eine Verlängerung wird es nur geben, wenn es auch ein politisches Ereignis gibt. So haben die das genannt, also eine Wahl oder ein zweites Referendum. Einfach noch mal ein paar Monate verlängern, das will Paris nicht. Und da wir alle einstimmig zustimmen müssen von Brüssel aus, kann also gegen Paris das nicht laufen. Deswegen muss dann klar sein, wie geht es in Großbritannien weiter, wird es dann eine Neuwahl geben oder gibt es ein zweites Referendum? Das ist die große Frage, die ja über allem schwebt.
Frage: Wir beobachten hektisches Treiben in London dieser Tage und in Brüssel, da scheint irgendwie alles ruhiger zu sein. Sie selber sprechen von Abwarten und Tee trinken. Will man in Brüssel jetzt erst mal also abwarten, was das britische Unterhaus sagt, bevor man über eine Fristverlängerung entscheidet? Ist Ihr Eindruck also, in Brüssel ist man gelassener, weil die EU einfach am längeren Hebel sitzt?
Lambsdorff: Na ja, Sie haben ja eben gesagt, es wirke auf Sie wie ein Shakespeare-Drama und das mag auch sein, aber manchen erscheint es auch wie Alice im Wunderland, was da gerade in London passiert. Und wir können nicht bei jeder Wendung und Drehung in Brüssel neue Gipfel der Staats- und Regierungschefs haben. Insofern: wir müssen jetzt erst mal schauen, was die da entscheiden. Europa ist Großbritannien mit dieser Änderung des Austrittsdeals erheblich entgegengekommen und wenn auch das jetzt nicht reicht, dann muss man tatsächlich neu diskutieren. Aber es geht nicht darum, wer hier am längeren Hebel sitzt. Am Ende des Tages ist der Brexit ein Verlustgeschäft für beide Seiten, eine bedauerliche Entwicklung, das erste Mal, dass ein Land die Europäische Union verlässt und bemerkenswert in dem Zusammenhang ist, wie einig die anderen Länder sich doch sind, in den Verhandlungen mit Großbritannien. Aber freuen oder gar am längeren Hebel sitzen tut da eigentlich keiner.
Frage: Das Brexit-Drama zieht sich jetzt ja schon über drei Jahre hin und wenn man sich mal die Herausforderungen anschaut, denen sich die Europäische Union ansonsten auch noch ausgesetzt sieht, beispielsweise der Handelskrieg mit den USA, die Klimakrise oder auch der Krieg in Syrien. Besteht da nicht die Gefahr, dass dieses ganze Hin und Her um den Brexit die EU ablenkt, wenn nicht sogar lähmt?
Lambsdorff: Frau von Waldenfels, dass Sie darauf hinweisen, ist wirklich sehr, sehr gut. Genau das ist nämlich der Punkt. Wir haben die Migrationskrise im Mittelmeer, wir haben Krieg im Nahen Osten, wir haben ein unfreundliches Russland vor unserer Haustür, wir haben Donald Trump im Weißen Haus, wir haben den Klimawandel, wir haben die ungelöste Digitalisierung für die Europäische Union, für Deutschland ja auch. Also, wir haben riesige Themen, mit denen wir umgehen müssen und dennoch sind wir seit drei Jahren wirklich fixiert auf diese Frage, wie die Briten nun Europa verlassen. Das ist einfach bedauerlich. Es lenkt ab, Sie haben völlig recht, und es verschiebt die Prioritäten in die falsche Richtung. Deswegen: ich würde mir wünschen, dass es jetzt gelingt, einen geordneten Austritt hinzubekommen oder eben eine klare Entscheidung, dass es ein zweites Referendum gibt. Dann haben wir ein anderes Verfahren, aber wir müssen irgendwann auch Klarheit haben, damit wir uns diesen anderen, den großen Problemen widmen können, auf die die Menschen völlig zu Recht Antworten erwarten.