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LAMBSDORFF-Interview: Das Dokument jetzt regelt nur das Auseinandergehen
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff gab dem „Deutschlandfunk“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Dirk Müller:
Frage: Herr Lambsdorff, wird Europa mitspielen?
Lambsdorff: Europa wird mitspielen. Europa spielt ja in Gestalt des Chefunterhändlers Michel Barnier schon seit im Grunde dem Brexit-Beschluss sehr konstruktiv mit und versucht, eine Lösung zu finden. Es hat ja dann immer dieses Gerücht gegeben, in Brüssel wolle man die Briten bestrafen. Das ist natürlich Unsinn gewesen von Anfang an. Tatsache ist, dass ein Abkommen vermutlich im Europäischen Parlament viel weniger Probleme haben wird als im britischen Unterhaus. Auf europäischer Seite sehe ich hier kein großes Problem.
Frage: Aber vielleicht hätte das etwas gebracht, wenn Michel Barnier von Anfang an signalisiert hätte, wir wollen, dass es möglichst gut wird und dass beide Seiten in irgendeiner Form, wenn die Entscheidung schon gefallen ist, davon auch profitieren, und hätte den Hardlinern in London ein bisschen den Wind aus den Segeln nehmen können.
Lambsdorff: Na ja, Sie reden hier im Konjunktiv Irrealis. Genau das hat er ja signalisiert und er hat auch immer darauf hingewiesen, dass aus der Sicht der Europäischen Union das Votum der britischen Bevölkerung, die Union zu verlassen, bedauerlich ist. Wir hätten die Briten gerne behalten; ich sage das jetzt mal aus Sicht eines Liberalen. Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus, hat die parlamentarische Demokratie, die Marktwirtschaft, den Freihandel, die Menschenrechte, all diese Dinge ja quasi erfunden.
Dass Großbritannien geht, bedauern wir außerordentlich, aber es war die britische Seite, die mehrere rote Linien gezogen hat: keine weitere Mitgliedschaft im Binnenmarkt, keine weitere Mitgliedschaft in der Zollunion und keine harte Grenze in Nordirland. Und irgendwann wurde auch dem Letzten in London und in Dublin dann klar, das sind widersprüchliche rote Linien. Es geht einfach nicht ohne Grenze, wenn man aus einer Zollunion rausgeht, und insofern musste dieser Widerspruch aufgelöst werden. Das scheint, jetzt mit dem Dokument gelungen zu sein. Wir kennen es ja alle noch nicht im Detail. Aber das ist genau die Frage, über die man jetzt in Großbritannien entscheiden muss: Ist man bereit, diesen Kompromiss zu tragen, ja oder nein.
Frage: Wir werden dann von europäischer Sicht aus möglichst alles tun, alles versuchen, dass der Handel, dass die Freizügigkeit, dass der Binnenmarkt, wie auch immer dann definiert, dass das alles so läuft, als wäre kaum was geschehen?
Lambsdorff: Na ja, Moment! Sekunde! Die Freizügigkeit ist Teil des Binnenmarktes. Die wird es nicht mehr geben. Die muss individuell vereinbart werden im zweiten Abkommen, das es ja noch geben wird. Ich glaube, das ist wichtig, dass man das hier mal sagt, auch für die Hörerinnen und Hörer. Dieses Abkommen, über das wir jetzt reden, ist quasi die Scheidungsurkunde, das Auseinandergehen in geordneten Bahnen. Dann kommt ja die Übergangsfrist und während dieser Übergangsfrist wird ein zweites Abkommen ausgehandelt, in dem es um die zukünftigen Beziehungen geht.
Das Abkommen ist ja noch gar nicht begonnen worden, sondern man sagt jetzt, wir müssen erst das eine ordentlich abarbeiten und fangen mit dem anderen an. Darin kann man dann schreiben über Freizügigkeit, über Visumsfreiheit, über Arbeitsgenehmigungen, über die Portabilität, die Mitnahmemöglichkeit von Sozialansprüchen, all diese Dinge. Das Dokument jetzt, über das wir reden, das regelt nur das auseinandergehen, und ich glaube, das ist ganz klar. Hier steht was drin von Handel, ja; deswegen diese Auflösung der roten Linie Zollunion und Grenze in Nordirland. Aber nein, es steht noch nicht die Vision für die Zukunft drin.
Frage: Aber das ist, um auf die Frage noch mal zurückzukommen, ganz klar die Zielperspektive von Seiten der Europäer? Das sehen Sie jedenfalls so?
Lambsdorff: Absolut!
Frage: Da ist niemand, da gibt es keinerlei Interessen zu sagen, wir werden die Briten dafür sanktionieren, dass sie gegangen sind, damit nicht noch einer geht?
Lambsdorff: Nein! Wie gesagt, das ist ein Spin, würde man auf Neudeutsch sagen. Das ist eine kleine Legende, die insbesondere von den Brexitiers in Großbritannien verbreitet worden ist, auch von Teilen der Konservativen Partei, Boris Johnson und andere. Die haben behauptet, es sei im Interesse der Europäer, jetzt die Briten dafür zu bestrafen, dass sie gegangen seien, einfach um sich auf einen ungünstigen Verhandlungsausgang vorzubereiten und dann mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen. Diesen Spin muss man aber nicht kaufen, sondern worum es uns geht – und das gilt wirklich für die weit überwiegende Mehrheit sowohl der Mitgliedsstaaten als auch der Abgeordneten im Europäischen Parlament, wie auch jedenfalls im Deutschen Bundestag, für die große Mehrheit der Abgeordneten dort –, eine Beziehung zu Großbritannien zu gestalten, in der dieses befreundete Land, das ja unser NATO-Partner bleibt, das ja ein Freund bleibt, die Beziehungen zu diesem Freund so zu gestalten, dass möglichst wenig Schaden angerichtet wird.
Um mal ein ganz konkretes Beispiel zu nennen, Herr Müller: Erasmus, das Studenten-Austauschprogramm der Europäischen Union für die junge Generation. Das ist etwas, das wollen wir den Briten ermöglichen, dass sie da weiter mitmachen können. Horizon 2020, die ganzen Forschungsprogramme für die Universitäten. Wenn Großbritannien möchte, wird es auch in Zukunft daran teilnehmen dürfen – muss dann natürlich ein bisschen was zahlen, kostet ja auch so was, aber im Prinzip ist die Offenheit für ein gutes, ein konstruktives zweites Abkommen sehr, sehr groß.
Frage: Das ist das, was viele ja auch kritisieren. Sie nehmen gerade dieses Beispiel noch einmal in die Hand: Erasmus, Studien-Förderprogramm für junge Studentinnen und Studenten. Da kann es doch nicht sein, wenn es einen Brexit geben sollte, wie immer der dann auch ausfällt, ob er nun weich ausfällt, ob er hart ausfällt, dass so was tatsächlich zur Disposition steht. Das bekommen wir doch auch mit anderen Ländern hin, wo wir viel weniger institutionalisierte Beziehungen haben.
Lambsdorff: Ganz genau. Wir haben Erasmus Mundus. Das ist ein Programm mit Ländern, die überhaupt noch nie Mitglied der Europäischen Union waren. Aber das ist dann die souveräne Entscheidung Großbritanniens, ob es das möchte, und wenn Großbritannien sich weiter an Erasmus beteiligen möchte, darf es das. Ich sehe niemanden in Brüssel oder in Berlin oder in irgendeiner anderen Hauptstadt, der sich dem entgegenstellen würde.
Frage: Reden wir über Nordirland, Graf Lambsdorff, immer kompliziert in dieser Auseinandersetzung. Was zeichnet sich da ab?
Lambsdorff: Was sich da abzeichnet ist im Grunde die Verfestigung einer Regelung, die wir heute schon haben. Wir haben eben im Beitrag gehört die Stimme aus der DUP, aus der Partei der Unionisten, dass es jetzt einen Sonderstatus für Nordirland geben soll und dass das ja völlig unerhört sei. Tatsache ist: Es gibt heute schon besondere Kontrollen, wenn Produkte nach Irland eingeführt werden, auch bei Nordirland. Es geht dann um wahnsinnig technische Angelegenheiten, Zollformalitäten, Pflanzen, Gesundheitsstandards, Verbraucherschutzthemen. Das wird ein bisschen verfestigt. Man wird Nordirland in der Zollunion lassen, einfach damit es keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben muss. Das – das haben wir in Dublin mehrfach gehört – will wirklich niemand auf der Insel.
Wir erinnern uns, gerade die Älteren werden sich noch daran erinnern, wie schrecklich, wie gewalttätig, wie brutal die Auseinandersetzung war in Nordirland in den 70er-Jahren. Da will niemand hin zurück. Und die Sorge ist, wenn es eine harte Grenze gibt, dass man genau dort wieder hin zurückkommt. Ich hoffe, dass im Unterhaus dieser Deal durchgeht, einfach um auf der Insel für Ruhe, für Frieden, für Stabilität und für wirtschaftlichen Austausch zu sorgen.
Frage: Selbst das, was für Sie jetzt so eindeutig ist und so eindeutig klingt, Graf Lambsdorff, ist in London bei den Brexitiers, bei den Hardlinern, bei den Konservativen, unter den Konservativen nach wie vor sehr, sehr umstritten. Sie haben viele Kontakte nach wie vor auch ins britische Unterhaus. Sie kennen dort viele Parlamentarier. Wie schätzen Sie die Mehrheitssituation ein?
Lambsdorff: Völlig unvorhersehbar. Aber ganz ehrlich: Ich bin da eher skeptisch, ob es gelingen wird.
Frage: Immer noch?
Lambsdorff: Ja, trotz allem. Wir werden jetzt mal abwarten, was die Details ergeben und wie die Premierministerin sich dort durchsetzen kann. Man wird auch mal abwarten müssen, ob Jeremy Corbyn von der Labour-Partei wirklich alle seine Abgeordnete geeint bekommt, gegen ein solches Abkommen zu sprechen.
Denn die Alternative zu dem Abkommen, das ja Boris Johnson in seiner üblichen polemischen Art gleich als große Katastrophe bezeichnet, obwohl er selber es auch noch gar nicht kennen kann, ob es Corbyn gelingen wird, alle Labour-Abgeordnete dabei zu behalten, gegen das Abkommen zu stimmen und damit den chaotischen Brexit zu riskieren, also einen ungeregelten Brexit, wo dann wirklich nicht mehr klar ist, wie es weitergeht, wie der Handel läuft, wie die Wirtschaft läuft, wie es mit den Zöllen ist, wie es mit Flugrechten und Landerechten für Flugzeuge ist, ich glaube das wird die große Frage der nächsten Wochen sein. Und ich will sehr hoffen, dass es May gelingt, da eine Mehrheit zusammenzubekommen. Aber optimistisch bin ich heute jedenfalls noch nicht.
Frage: Das hört sich nicht so gut an. Wenn Sie jetzt der europäische Emissär wären vor Ort und müssten mit Boris Johnson und Konsorten dementsprechend verhandeln, hätten Sie noch eine Idee, irgendetwas in dieses Paket reinzubringen, was Johnson und die anderen Kritiker milde stimmen könnte?
Lambsdorff: Herr Müller, bei Herrn Johnson müsste man ihm dann sagen: Okay, Boris, anschließend wirst Du Premierminister. Ich glaube, das würde ihn sofort umstimmen, denn das ist ja das, worum es da geht. Bei den Tories läuft ein interner Kampf. Es läuft der Wettlauf um die Nachfolge von Theresa May. Da gibt es einige, die ihre eigenen, ihre persönlichen politischen Interessen, ihren eigenen Ehrgeiz nach vorne schieben, über die Interessen ihres Landes hinweg.
Frage: Johnson sagt, es geht um das Land, es geht um die Souveränität Großbritanniens, endlich auch über alles wieder bestimmen zu können.
Lambsdorff: Ja, die Worte höre ich; allein mir fehlt der Glaube. Von Johnson ist bekannt, dass er, als Cameron diesen ganzen Prozess begann, ja zwei Artikel geschrieben hatte: einen, in dem er leidenschaftlich für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union warb, und einen, mit dem er leidenschaftlich für den Austritt warb. Er wollte einfach abwarten, wie Cameron sich entscheidet, und als Cameron gesagt hat, wir machen ein Brexit-Referendum und er, Cameron, kämpft für den Verbleib, da hat Johnson gesagt, dann kämpfe ich dagegen. Er ist an der Stelle – das muss man so deutlich sagen – nur an seinen eigenen Ambitionen, nicht an den Interessen seines Landes orientiert.