Stellv. Fraktionsvorsitzender

Zuständig für „Freiheit und Menschenrechte weltweit“: Auswärtiges, Angelegenheiten der Europäischen Union, Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Verteidigung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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Alexander Graf Lambsdorff
Pressemitteilung

LAMBSDORFF-Gastbeitrag: Die EU muss im Großen groß sein und im Kleinen klein

Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff schrieb für „Focus Online“ den folgenden Gastbeitrag:

Was für eine Europäische Union wollen wir? Alle politischen Parteien müssen diese Frage im kommenden Europawahlkampf beantworten, der spätestens letzte Woche mit der Bekanntgabe der Kandidatur Manfred Webers für das Amt des Kommissionspräsidenten eröffnet worden ist.

Viel wird von dieser Wahl abhängen. Groß ist die Gefahr, dass links- und rechtspopulistische Parteien Aufwind bekommen. Die EU scheint angezählt zu sein – die Flüchtlingsfrage ist ungelöst, der Brexit steht wie ein Schreckgespenst im Raum, die transatlantische Freundschaft bröckelt und nach Ungarn und Polen regieren jetzt auch in Italien Populisten.

All das klingt bedrohlich, doch der Krisenmodus ist der Normalzustand der Europäischen Union, niemand weiß das besser als Jean-Claude Juncker. In dieser Lage wird der Veteran aus Luxemburg mit seiner vierten und letzten Rede „zur Lage der Europäischen Union“ den Schlussstein seines politischen Vermächtnisses setzen. Juncker wird beweisen müssen, dass er seinem Ruf als „politischer“ Kommissionschef gerecht wird. Er muss zeigen, dass die EU sich jetzt weder im Klein-Klein der Tagespolitik verlieren, noch im Wahlkampfgetöse aufgehen wird, sondern dass sie echte Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit hat.

Natürlich muss der Kommissionspräsident sich heute vor allem zu Migration und Flucht äußern – er wird ein umfassendes Gesetzespaket zu diesen Themen vorstellen. Die Europäische Kommission plant, FRONTEX zu einem echten europäischen Grenzschutz mit mehr Personal und eigener Handlungsbefugnis aufzuwerten, aus Sicht der Freien Demokraten ein längst fälliger Schritt in die richtige Richtung. Europa muss seine Außengrenzen besser schützen, wenn wir eine wirkliche Steuerung von Migrationsbewegungen erreichen wollen. Nur konsequent ist deshalb auch, dass Juncker plant, die Mitgliedsstaaten bei Abschiebungen zu unterstützen.

Bisher war eine Reform der europäischen Grenzschutzagentur unter anderem daran gescheitert, dass insbesondere Großbritannien der EU keine staatlichen Hoheitsbefugnisse abgeben wollte. Hier eröffnet sich mit dem Brexit, ähnlich wie bei der europäischen Verteidigungsunion, ein Fenster der Gelegenheit, um Europa wieder auf Kurs zu bringen. Dies ist auch notwendig, denn gerade die letzten Wochen und die vor der italienischen Küste herumirrenden Flüchtlingsbote haben gezeigt, dass nationale Lösungen und Abschottungspolitik humanitär nicht akzeptabel sind, und dass sie politisch gerade nicht zukunftsweisend für die Europäische Union sein können.

Gerade Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von den offenen Binnengrenzen und dem gemeinsamen Markt. Dafür aber sind wir auf ein funktionierendes europäisches Grenzschutzregime angewiesen. Klar ist, dass Junckers Vorschlag nur mit breiter Unterstützung der Mitgliedsstaaten gelingen wird – die Bundesregierung muss daher umso mehr darauf achten, endlich adäquate Antworten auf die Reformvorschläge Emmanuel Macrons zu finden. Für den französischen Präsidenten ist die Sicherheit Europas der erste und wichtigste Schlüssel zur Wiederherstellung der europäischen Souveränität. Ohne den deutsch-französischen Motor werden die Vorschläge Junckers verhallen. Auch Österreich, das im Juni die Ratspräsidentschaft übernommen hat, muss hier liefern – der österreichische Kanzler und konservative Hoffnungsträger Sebastian Kurz hat den Schutz der Außengrenzen zur obersten Priorität erklärt.

Gleichzeitig steht für die Freien Demokraten fest, dass menschenwürdige und legale Einwanderungswege nach Europa eröffnet werden müssen. Der Mangel an Arbeitskräften wird gerade zum Bremsklotz für das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Jeder dritte Handwerksbetrieb in unserem Land hat keinen einzigen Bewerber mehr für seine Ausbildungsplätze. In Gastronomie, Pflege und zahllosen anderen Branchen suchen Arbeitgeber händeringend nach Mitarbeitern auf nahezu allen Qualifikationsniveaus. In der Industrie fehlen die technischen Fachkräfte, die später als Industriemeister in Führungsverantwortung stehen sollen. Gesteuerte Einwanderung im wohlverstandenen eigenen Interesse, gleichzeitig eine neue Strategie für Armuts- und Fluchtursachenbekämpfung in Afrika und die Gewährleistung der Sicherheit an unseren Außengrenzen schließen einander nicht nur nicht aus, sie sind im Gegenteil gleichzeitig notwendig.

All das sind große Zukunftsthemen und deshalb Themen für ganz Europa. Und welches Europa wollen wir nun? Die EU muss im Großen groß sein und im Kleinen klein. Das bedeutet weniger Europa da, wo Europa sich besser raushält, aber dann auch mehr Europa, wenn ein Problem wirklich nur gemeinsam gelöst werden kann. Die EU soll sich um die Themen kümmern, die für alle Europäer wichtig sind, aber Regulierung bis ins letzte Detail unterlassen.

Diese Trendwende hat Jean-Claude Juncker begonnen, seit Jahren gibt es keine Schlagzeilen mehr über Duschköpfe, Olivenöldöschen und Staubsauger. Stattdessen hat er die Kommission darauf verpflichtet, sich auf die großen Themen konzentrieren: Migration und Grenzschutz, Wirtschaft und Währung, Klimawandel und Energiesicherheit. Heute muss er in seiner Rede zum Zustand der EU seine Nachfolger auf diese Ausrichtung verpflichten. Und alle politischen Parteien, die sich in den nächsten Monaten in den Europawahlkampf stürzen, tun gut daran, sich dieses Vermächtnis Junckers zu Herzen zu nehmen.

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