KUBICKI-Gastbeitrag: Kanzleramt hat mit Corona-Vorlage den Bogen überspannt
Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki schrieb für „Focus Online“ den folgenden Gastbeitrag:
Das war kein guter Tag für die Kanzlerin. Das seit Sonntagabend kursierende Papier ihres Hauses, das eigentlich die heutige Entscheidungsgrundlage für die Runde der Regierungschefs sein sollte, wurde schneller zerrissen, als dass es überhaupt eine große mediale Wirkung hätte erzielen können. Allerdings war die Tölpelhaftigkeit und Inkonsistenz der Vorschläge ihres Ministers Helge Braun auch wirklich bemerkenswert.
Ein Beispiel: Eine dreiköpfige Familie sollte sich mit einer anderen dreiköpfigen Familie weiterhin zu Hause treffen dürfen. Unter freiem Himmel sollte dasselbe Treffen jedoch untersagt sein. Berücksichtigt man, dass die Aerosol-Belastung im Freien deutlich geringer ist als im geschlossenen Raum, stellt man fest: Logisch ist das nicht. Eher kontraproduktiv.
Ein anderes Beispiel: Kinder und Jugendliche sollten angehalten werden, sich nur noch mit einem festen Freund oder einer festen Freundin in der Freizeit zu verabreden. Im Kanzleramt hoffte man womöglich, dass diese Rechnung nicht nur theoretisch aufgeht. Praktisch heißt das aber zum Beispiel bei drei engen Freunden: Einer ist raus und muss seine private Zeit alleine verbringen. Abgesehen davon sehen sich die drei selbstverständlich trotzdem jeden Tag in der Schule und sitzen mit vielen anderen im selben Klassenzimmer. Auch hier sucht man eine zwingende Logik vergebens.
Eines jedoch machte die Vorlage überdeutlich: Die Mitarbeiter um den Kanzleramtsminister mussten eingestehen, dass einige regierungsamtliche Erklärungen der Vergangenheit nicht ganz vernünftig waren und es offensichtliche Versäumnisse der Exekutive gab. Wenn die Ministerialen dazu aufrufen, unnötige Fahrten in Bussen und Bahnen besser zu vermeiden, dann stellt sich die durchaus weitreichende Frage, ob der ÖPNV nicht vielleicht doch ein relevanter Infektionsort ist.
Bisher war davon aber noch nicht die Rede. Im Gegenteil: Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen sagte vor wenigen Tagen noch, in diesen Verkehrsmitteln hätte man kein erhöhtes Corona-Infektionsrisiko zu befürchten. Wäre es wirklich so, dann könnte man auch häufiger mit Bus und Bahn fahren.
Der Eindruck muss aber leider entstehen, dass man dieses Thema im Kanzleramt besser nicht eingehender erklären möchte, würde es doch im schlimmsten Fall bedeuten, dass ein Großteil des Berufsverkehrs so nicht mehr stattfinden könnte. Hier muss die Bundeskanzlerin dringend für Aufklärung sorgen, soll die Verunsicherung in der Bevölkerung nicht noch größer werden.
Dass die Bundesregierung jetzt per Verordnung festgelegt hat, die Bewohner bzw. Patienten, das Personal und die Besucher von Alten- und Pflegeheimen regelmäßig zu testen, ist sehr sinnvoll, kommt aber viele wertvolle Monate zu spät. Denn gerade in diesen Einrichtungen wütete das Virus seit März am Schlimmsten und verursachte rund 50 Prozent der Todesfälle. Und auch die versprochene Verteilung von FFP2-Masken an Menschen aus „besonders vulnerablen Gruppen“ hätte schon vor Monaten stattfinden müssen und damit Ansteckungen vermeiden können.
Unverständlich ist, warum die Anzahl der Masken auf insgesamt 15 – also eine pro Winterwoche! – begrenzt werden soll und dabei auch noch anteilig bezahlt werden müssen. Hier macht es Bremen vorbildlich: Dort können Menschen ab 65 Jahren zehn FFP2-Masken pro Monat kostenlos in der Apotheke erhalten. Warum machen wir es nicht flächendeckend in Deutschland so?
Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass die Ministerpräsidenten das Thema „Schule“ in dieser Phase des Lockdowns noch nicht abschließend behandeln wollen. Fraglich ist, warum über Monate nicht konzentriert über geeignete Luftreinigungskonzepte nachgedacht wurde – schließlich konnten wir bereits im Frühjahr erahnen, dass die Pandemie im Herbst noch nicht verschwunden ist. Die Max-Planck-Gesellschaft hat vor ein paar Tagen einen Bausatz für ein Klassenzimmer-Lüftungssystem vorgestellt, dessen Bestandteile für rund 200 Euro in jedem Baumarkt zu erstehen sind. Hiermit könnten mindestens 90 Prozent der Aerosole aus der Luft gefangen werden, sagten die Forscher.
Aufgabe einer verantwortungsvollen Anti-Corona-Politik wäre doch, diese Luftreinigungssysteme in so vielen Klassenräumen wie möglich aufzustellen. Hierfür muss der Bund ein spezielles Nothilfeprogramm auflegen, damit den Ländern entsprechende finanzielle Mittel bereitgestellt werden können.
Das größte Manko ist aber noch immer die Digitalisierung. Es ist schlimm und nicht mehr akzeptabel, dass in den vergangenen sieben Tagen von rund 400 Gesundheitsämtern in Deutschland lediglich 148 das Meldesystem DEMIS genutzt haben – acht Monate nach Beginn der Pandemie! Wenn dieses gravierende Problem nicht in den regelmäßigen Runden der Regierungschefs des Bundes und der Länder angesprochen und gelöst wird, wo dann?
Es war absehbar, dass die Bundeskanzlerin für ihre unbotmäßige Intervention irgendwann die Quittung erhält. Denn über den Infektionsschutz bestimmen die Länder in eigener Verantwortung. Die Runde der Regierungschefs, die Angela Merkel ins Leben gerufen hatte und für die es keine verfassungsrechtliche Grundlage gibt, ist damit an ihr Ende gekommen. Das Kanzleramt hat mit seiner jüngsten unlogischen und sinnwidrigen Vorlage den Bogen überspannt. Es wird Zeit, dass die Parlamente in Bund und Ländern das Heft in die Hand nehmen.