KUBICKI-Gastbeitrag: Grundrechtseinschränkungen müssen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein
Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki schrieb für „Tagesspiegel Online“ den folgenden Gastbeitrag:
Zur Bekämpfung einer Seuche oder Infektionskrankheit erlaubt das Ende März verschärfte Infektionsschutzgesetz die Einschränkung von verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten, namentlich der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Meinungsfreiheit gehört nicht dazu. Wenn also die Bundeskanzlerin oder Ministerpräsidenten erklären, „dass im Augenblick nicht der Zeitpunkt ist, über die Lockerung dieser (einschränkenden) Maßnahmen zu sprechen“, können wir dies als freie Bürger eines demokratischen Rechtsstaates getrost und sanktionslos ignorieren.
Dieser halbe Satz der Kanzlerin dokumentiert ein derzeitiges politisches Dilemma. Die Exekutive hat in der Corona-Krise das Heft des Handelns übernommen. So weit, so notwendig. Doch sowohl der immense Handlungsdruck auf der einen, als auch der verbreitete Wunsch nach härtestmöglichen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie auf der anderen Seite haben zum Teil zu überschießenden Aktionen der Exekutive geführt, die aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest zweifelhaft sind und daher unter Umständen einer Korrektur bedürfen.
Sämtliche Grundrechtseinschränkungen, soweit sie gesetzlich erlaubt sind, müssen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Sind sie es nicht, sind sie verfassungswidrig.
In einigen Bundesländern ist die Öffnung bestimmter Geschäfte gestattet, in anderen ist genau dies verboten. In Hamburg z.B. dürfen Blumenläden offen sein, in Bremen nicht. In Berlin dürfen Buchläden öffnen, in Bayern nicht.
Nun ist es Sinn und Zweck unserer föderalen Ordnung, auch Gefahrenlagen möglichst zielgenau zu bekämpfen und notwendige lokale Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Warum ein Tabakgeschäft in Hessen aber grundsätzlich ungefährlicher ist, als in den meisten anderen Bundesländern, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest erklärungsbedürftig.
Wenn die Wiesbadener Abwägung eher zugunsten der Freiheit und der Ausübung des Gewerbebetriebes ausfällt, müssen alle anderen Bundesländer stichhaltig und nachvollziehbar darlegen, warum in ihrem Land die Schließung der Geschäfte aus Gründen des Infektionsschutzes (!) notwendig ist.
Der Kleinunternehmer, der wegen einer restriktiven Handhabung seines Bundeslandes sein Geschäft auf unbestimmte Zeit schließen, seine Mitarbeiter in die Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit schicken und um seine berufliche Zukunft bangen muss, hat ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht darauf, dass diese Erklärung erfolgt.
Grundsätzlich gilt: Je tiefer der Grundrechtseingriff, desto höher sind die Anforderungen an die Begründetheit und Begründung des Eingriffs. Ich kann nicht erkennen, dass dies von allen handelnden Akteuren bisher erkannt und vor allen Dingen verinnerlicht worden ist. „Alles dient dem Gesundheitsschutz“ ist als alleinige Erklärung jedenfalls wenig tragfähig.
Dies kann entlang jeder Maßnahme durchdekliniert werden. In Schleswig-Holstein oder Bremen sind Demonstrationen gem. Art. 8 unseres Grundgesetzes gestattet, soweit die zuständige Behörde diese nicht wegen der Corona-Gefahr verbietet, beschränkt oder mit Auflagen versieht. Dies ist eine vernünftige und grundrechtsschonende Regelung, zumal diese Einschränkung nur bis zum 19. April gilt. Der rot-rot-grüne Senat ist gegenüber den Grundrechten der Berliner Bürger deutlich unsensibler. So kündigte der Regierende Bürgermeister Michael Müller mit Blick auf den 1. Mai bereits an, dass Demonstrationen bis dahin „mit Sicherheit“ untersagt bleiben.
Emotional mag es verständlich sein, in Berlin zum 1. Mai keine Versammlungen stattfinden zu lassen, die in der Vergangenheit häufig in Randale und Gewalt ausarteten. Verfassungsrechtlich ist diese mutige Aussage des Berliner Regierungschefs höchst bedenklich, auch wenn sie infektionsrechtlich ummantelt wird.
Erhebliche Zweifel an der Verfassungskonformität habe ich insbesondere an dem Verbot einiger Bundesländer, das eigene Wochenendhaus oder die eigene Zweit-/Ferienwohnung aufzusuchen, wenn man nicht mit erstem Wohnsitz in dem Bundesland gemeldet ist. Es könnte schon an der gesetzlichen Grundlage für ein solches Verbot fehlen. § 28 Abs. 1 IfSG ermächtigt die zuständige Behörde, Personen zu verpflichten, an dem Ort ihres Aufenthalts zu verbleiben oder von ihr bestimmte Orte nicht aufzusuchen. Es erlaubt aber keine Differenzierung nach Eigentum oder Melderegister.
Dies wird auch nicht durch die teilweise nachgelieferte Begründung beseitigt, die Kapazitäten der medizinischen Versorgung seien „maßgeblich an der vor Ort mit Erstwohnsitz lebenden Bevölkerung ausgerichtet“. Angesichts der löblichen Tatsache, dass mehrere Bundesländer auch Intensivpatienten aus Italien und Frankreich aufgenommen haben, um sie medizinisch zu versorgen, ist es wenig einleuchtend, warum bei Bedarf ein solcher Austausch unter den Bundesländern nicht möglich sein sollte.
Mindestens ebenso wichtig ist die Tatsache, dass die Differenzierung der Wohnungsnutzung nach Meldestatus nicht geeignet ist, die Verhütung von Ansteckung zu gewährleisten. Geeignet sind soziale Distanz und die Einhaltung von Abstandsregeln und die Beachtung weiterer Schutzmaßnahmen wie gegebenenfalls das Tragen von Schutzmasken. Dass Zweitwohnungsbesitzer sich hier durchgängig anders verhalten würden, als die „einheimische“ oder besser mit Erstwohnsitz gemeldete Bevölkerung, ist weder plausibel, noch sonst offenkundig.
Die Abweisung von Fahrradfahrern aus Hamburg am Elbdeich an der schleswig-holsteinischen Landesgrenze könnte gerechtfertigt sein, um ein Einschleppen des Virus zu unterbinden. Aber dann nur deshalb, weil sie aus Hamburg kommen und nicht, weil sie Hamburger sind. Das Infektionsschutzgesetz erlaubt die Begrenzung des Betretens aus Orten und in Orte (oder Bundesländer), es erlaubt keine Differenzierung nach Herkunft oder Meldestatus. Dem Virus ist es egal, woher jemand kommt. Seine offizielle Meldeadresse bundesweit ist ausschließlich das Robert-Koch-Institut in Berlin.