Wolfgang Kubicki
Pressemitteilung

KUBICKI-Gastbeitrag: Die Bundesregierung hat beim Schutz der vulnerablen Gruppen versagt

Das FDP-Fraktionsvorstandsmitglied Wolfgang Kubicki schrieb für „Tagesspiegel Online“ den folgenden Gastbeitrag:

Vielen journalistischen Beobachtern ist gar nicht aufgefallen, dass die Runde der Regierungschefs von Bund und Ländern am vergangenen Sonntag einen Paradigmenwechsel in der Corona-Politik vereinbart hat. Kanzlerin und Ministerpräsidenten erklärten zum ersten Mal in zehn Monaten Pandemie den Schutz der vulnerablen Gruppen in Alten- und Pflegeheimen zu einem gemeinsamen Ziel der Virus-Bekämpfung. Dies geschah zwar erst in Punkt 11 der später veröffentlichten Liste – aufgereiht hinter offensichtlich drängenderen Fragen wie dem Verzehr alkoholischer Getränke oder dem Feuerwerksverbot – aber immerhin.

Dass diese Frage jedoch über einen so langen Zeitraum in diesen Runden überhaupt keine Rolle gespielt hatte, wurde nicht weiter hinterfragt. Dies forderten Teile der Opposition und führende Virologen allerdings schon seit dem Frühjahr.

Spätestens der „Lockdown light“ machte dieses gefährliche Versäumnis offensichtlich. Ausgerechnet die Gruppe, bei der eine Covid-19-Erkrankung am tödlichsten ist, steckte sich nun überproportional an. Es starben in diesem Jahr doppelt so viele Menschen über 80 als die gesamte Gruppe unter 80 an oder mit Corona.

Und die Zahlen verrieten uns, dass rund die Hälfte der Corona-Toten aus Alten- und Pflegeheimen kommt, in Hessen waren es bei jüngsten Erhebungen sogar zwei Drittel. Dort, wo die staatliche Schutzpflicht durch strenge Auflagen und noch strengere Kontrollen hätte wirksam sein können, zeigte sich die Exekutive plötzlich nachlässig. Über Monate wurden Überlegungen wie die Maskenpflicht im Freien diskutiert, aber bei den schutzbedürftigen Älteren ließ man die Dinge laufen. Mit fatalen Konsequenzen.

Dabei lagen die Lösungen auf dem Tisch: Die Verteilung von FFP2-Masken für die Sicherung des Besucherkontaktes. Noch im März forderte die FDP Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf, eine sichere Versorgung mit diesen Masken zu gewährleisten, damit es keine Engpässe gibt.

Nötig wären in den Heimen zudem regelmäßige Testungen von Pflegern und dem Reinigungspersonal gewesen, damit das Virus nicht eingeschleppt werden kann. Sicher, auch dort kann durch eine Testlücke einmal eine Eintragung erfolgen – aber besser, wir tun das Mögliche, als gar nichts.

Die zusätzliche Arbeitskraft für die Testung hätte man auch bei studentischen Hilfskräften einkaufen können, denen durch die Corona-Schließungen vielfach die finanzielle Basis weggebrochen ist. Also bei denjenigen, denen die Bundesregierung in Werbespots vor Wochen erklärt hat, sie würden zu Helden der Bewegung, wenn sie möglichst faul auf dem Sofa liegen bleiben.

Was statt einer lösungsorientierten Herangehensweise passierte, war der Ausbruch eines Streits zwischenunterschiedlichen Schulen der Corona-Bekämpfung. Auf der einen Seite die der Kanzlerinnen-Einflüsterer um Christian Drosten, die eher auf Beschränkungen für alle setzte und kein großes Augenmerk auf den besonderen Schutz der vulnerablen Gruppen legte. Auf der anderen das Lager um Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit, das vor allem die Risikogruppen im Blick hatte.

Die Kanzlerin und die Regierungschefs der Länder schwenkten nun am Sonntag zum Teil auf den letzteren Kurs ein, weil die schrecklichen Zahlen die bisherige Linie gnadenlos widerlegten. Die Volte zeigte: Die Corona-Politik der Kanzlerin, die sich hauptsächlich auf die allgemeinen Inzidenzzahlen stützte und den Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen keinen besonderen Schutz geben wollte, ist gescheitert.

Ohne jedoch ein Wort dazu, dass es beim Schutz dieser Einrichtungen schreckliche politische Versäumnisse gegeben hat, ging die Bundeskanzlerin vor ein paar Tagen im Gespräch mit Studenten zum Gegenangriff über. Es war ihr offensichtlich ein Anliegen, öffentlich recht zu behalten. Sie diffamierte die Strategie des besonderen Schutzes, indem sie erklärte, es gebe welche, die vulnerable Gruppen so gut schützen und „wegsperren “ wollten, dass sie selbst möglichst ungestört weiterleben könnten.

Dass sie jetzt selbst diese Strategie zum Teil adaptierte, ließ sie natürlich unter den Tisch fallen. Es ging darum, die eigenen politischen Fehler möglichst nicht groß zum Thema machen zu lassen und die Schuldfrage aus dem eigenen Spielfeld zu kehren.

Diejenigen, die meinen, die Physikerin Angela Merkel würde stets nüchtern und sachlich auf die Welt blicken und ebenso handeln, werden in dieser Krise eines Besseren belehrt. Vielmehr offenbart dieser Ausbruch eine ungewöhnliche Dünnhäutigkeit. Denn tatsächlich bedeutet „besonderer Schutz“ eben nicht „wegsperren“, sondern die sichere Ermöglichung von Kontakten in den Einrichtungen. Abgesehen davon glaubt kein vernünftiger Mensch wirklich, wir alle könnten auf absehbare Zeit auf Abstandsregeln, das Maskentragen und Hygienekonzepte verzichten. Im Gegenteil: Wir werden mit vielen Einschränkungen leben müssen, bis die Herdenimmunität erreicht ist.

Die vergangenen Monate haben leider sehr deutlich offengelegt, dass die Corona-Politik der Bundeskanzlerin nicht mehr als ein ständiges Fahren auf Sicht ist. Es gab und gibt noch immer keine Strategie, wie es unter Berücksichtigung des besonderen gesundheitlichen Schutzes gewährleistet werden kann, mit dem Virus leben zu lernen. Die Lockdown-an-Lockdown-Philosophie der Bundesregierung ist jedenfalls keine wirksame Vorgehensweise, zumal wir im Herbst des kommenden Jahres vermutlich noch keine Herdenimmunität erreicht haben werden.

Es wird endlich Zeit, über die Langfriststrategie nach dem 10. Januar zu debattieren und den Menschen im Land eine Perspektive zu geben. Wir brauchen die offene Diskussion über das Für und Wider einzelner Corona-Maßnahmen. Dass die Bundesregierung in der Vergangenheit über die kritischen Stimmen nonchalant hinweggegangen ist und sie obendrein noch diffamiert hat, darf sich nicht wiederholen. Die Versäumnisse, die zu den schrecklichen Zahlen in den Alten- und Pflegeheimen geführt haben, sollten eine Lehre sein.

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