DÜRR-Interview: Putin nicht auf den Leim gehen
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab der „Stuttgarter Zeitung“ (Donnerstagsausgabe) und „stuttgarter-zeitung.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Christopher Ziedler.
Frage: Herr Dürr, wie würden Sie Arbeit und Zustand Ihrer Ampelkoalition beschreiben?
Dürr: Wir sind eine Koalition, die aus drei ganz verschiedenen Parteien mit sehr unterschiedlichen Blickwinkeln besteht und sich trotzdem den besonders großen Herausforderungen dieser Tage stellt. Unser Land wird in einer unfassbar schwierigen Phase stabil regiert. Wir meistern diese Krise.
Frage: Das war jetzt der Werbeblock.
Dürr: Man sollte nicht unterschätzen, dass wir in dieser schwierigen Lage auch große Zukunftsprojekte vorantreiben. Wir machen Deutschland zum modernen Einwanderungsland, weil alle Branchen händeringend Fachkräfte suchen. Wir treiben den Klimaschutz genauso voran wie die Planungsbeschleunigung. Da werden Blockaden gelöst, die uns über Jahrzehnte gelähmt haben. Im Vergleich zur Vorgängerregierung reagieren wir in Lichtgeschwindigkeit auf aktuelle Entwicklungen – denken Sie nur an das Sondervermögen für die Bundeswehr oder die Waffenlieferungen an die Ukraine.
Frage: Aber wie lang soll der offene Streit über Atomkraft, Finanzen oder Entlastungen noch gehen? Spielt man nicht Wladimir Putin in die Hände, der gespaltene Regierungen und Gesellschaften liebt?
Dürr: Wir dürfen Putin nicht auf den Leim gehen und uns spalten lassen – das gilt auch für uns als Regierung im Umgang mit den von ihm verursachten Problemen. Ich finde es gut, wenn demokratische Parteien ihre Positionen nicht verwischen, sondern sie öffentlich diskutieren. In einer Koalition müssen Debatten aber auch zu einem Ende kommen. Daher brauchen wir jetzt Tempo und müssen alle nötigen Beschlüsse für Herbst und Winter fassen.
Frage: Kaum signalisieren einige Grüne Offenheit für einen Streckbetrieb von einigen Monaten, fordern Sie neue Brennstäbe und den Weiterbetrieb bis 2024. Wollen Sie den Atomausstieg ganz aushebeln?
Dürr: Die FDP lehnt einen Ausstieg vom Ausstieg ab, das ist beschlossene Sache und gesellschaftlicher Konsens. Wir müssen aber schon den übernächsten Winter ins Auge fassen, weil sich auch dann mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht genug andere Alternativen zu russischem Gas bieten. Ich habe Verständnis für die Grünen und ihre Geschichte. Wir brauchen aber schnelle, pragmatische Lösungen, um eine echte Energiekrise zu verhindern, wenn es im Winter kalt wird.
Frage: Grüne argumentieren, dass Atommeiler nicht das Wärmeproblem beim Gas lösen und beim Strom nur eine Grundlast liefern, wo es aber doch am ehesten in den Spitzen Lücken geben könnte?
Dürr: Der Zusammenhang liegt doch auf der Hand. Im Augenblick sichern wir die Grundlast, die Erneuerbare Energien bei Windstille oder nachts nicht immer liefern, mit Gas- und Kernkraftwerken. Fällt die Kernkraft aus, wird es noch schwerer, vom russischen Erdgas wegzukommen, weil mehr Strom ersetzt werden muss. Zudem ist unseren EU-Nachbarn kaum beizubringen, dass wir auf deren Solidarität beim Gas hoffen, aber zugleich selbst nicht alles tun, um eine Stromlücke zu verhindern. Daher meine herzliche Bitte, das Ganze nicht ideologisch zu betrachten, sondern ganz pragmatisch aus der Warte der Versorgungssicherheit.
Frage: Käme es zur ernsten Versorgungskrise, müsste der Staat im großen Stil helfen. Warum schließt die FDP so kategorisch ein Aussetzen der Schuldenbremse aus?
Dürr: Im Augenblick haben wir keinen Katastrophenfall, für den Artikel 115 des Grundgesetzes Ausnahmen von der Schuldenbremse erlaubt. Würden wir in diesem ökonomischen Umfeld erneut eine expansive Ausgabenpolitik verfolgen, würde der Staat selbst die Inflation weiter anheizen. Das kann niemand wollen.
Frage: Wäre noch mehr Inflation nicht das kleinere Übel, bevor ganze Wirtschaftszweige kollabieren?
Dürr: Die FDP hat sich in der Pandemie auch nicht gegen Hilfen gewandt, um die Volkswirtschaft am Laufen zu halten. Wir befinden uns aber derzeit nicht in einer solchen Situation. Zudem gab es keine Preissteigerung dieses Ausmaßes. Die Schuldenbremse ist jetzt die Lösung und nicht das Problem, denn wir dürfen keinesfalls riskieren, dass die Preise noch stärker steigen.
Frage: Wie schlägt die FDP stattdessen vor?
Dürr: Erstens haben wir schon Entlastungen organisiert, die sich für eine vierköpfige Familie in diesem Jahr auf deutlich über 1000 Euro belaufen werden. Weitere Hilfe soll es nicht durch neue Ausgabenprogramme geben, sondern durch eine geringere Steuerlast, also echte Entlastungen. Das gilt gerade für das Thema kalte Progression: Lohnsteigerungen, die nur Inflationsausgleich sind und nicht zu höherer Kaufkraft führen, dürfen nicht zu einer höheren Besteuerung führen. Finanzminister Christian Lindner, unser Parteichef, unterbreitet dazu im Herbst einen konkreten Vorschlag, wie sie abgeschafft wird.
Frage: Auch das will gegenfinanziert werden. Wie?
Dürr: Das Kabinett hat ja bereits bewiesen, wie es funktioniert. Der Haushaltsentwurf 2023 zeigt, dass man zugleich entlasten, in Zukunftsprojekte investieren und die Schuldenbremse einhalten kann, wenn man Geld für unsinnige Ausgaben kürzt.
Frage: Kann die Koalition im Herbst an den so gegensätzlichen Positionen scheitern?
Dürr: In solchen Kategorien denke ich nicht. Der erwähnte Etatbeschluss zeigt doch, dass sich auch SPD und Grüne an diesen Punkt im Koalitionsvertrag gebunden fühlen. Für uns war er ein zentrales Argument, um in diese Regierung einzutreten – in jeder anderen Konstellation wäre die Schuldenbremse längst aufgeweicht worden, auch von der Union. Insofern: Die FDP ist in der Ampel der Garant für finanzpolitische Stabilität. Deswegen wird es auch keine Steuererhöhungen geben. Was wäre denn die Folge einer Übergewinnsteuer, die nun einige fordern? Sie würde am Ende an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden und dann steigen die Preise noch mehr. Damit wäre niemandem geholfen.
Frage: Ihre Partner fragen sich indes, warum sie parteipolitische Gewissheiten in der Krise über Bord werfen müssen, die Liberalen aber nicht.
Dürr: Es geht nicht um parteipolitische Landgewinne, sondern darum, das Richtige zu tun. Uns ist der Rückgriff auf Kohlekraftwerke übrigens genauso wenig leicht gefallen wie den Grünen, weil es auch unsere Klimaziele sind, die so schwerer einzuhalten sind.
Frage: Wann aber hat die FDP einmal krisenbedingt ein Herzensanliegen geopfert?
Dürr: Hundert Milliarden Euro Sonderschulden gehören nicht zur traditionellen FDP-Finanzpolitik. Mit der neuen Bedrohung durch Russland war es aber unabdingbar, bei der Bundeswehr schnell das nachzuholen, was über viele Jahre versäumt wurde. Da haben wir uns auch nicht lange gesperrt, im Gegenteil: Christian Lindner selbst hat den Vorschlag aktiv eingebracht.
Frage: Zumindest der Streit um das Infektionsschutzgesetz ist geschlichtet.
Dürr: Ja, wir sind uns darin einig, dass viele der teils absurden Vorschläge, etwa von Ministerpräsident Kretschmann, nicht kommen werden. Lockdowns, Schulschließungen und pauschale Zugangsbeschränkungen wird es nicht mehr geben, dafür hat sich die FDP stark gemacht. Mindestens so wichtig wie die Gesetzesgrundlage aber sind die organisatorischen Vorbereitungen vor Ort. Ich erwarte von den Ländern und den Ministerpräsidenten, dass sie alles tun, damit die Schulen im Winter normal betrieben werden können. Ich möchte nichts mehr hören von Kindern, die mit Mütze und Schal den ganzen Tag am offenen Fenster sitzen müssen, weil immer noch keine Luftreiniger eingebaut wurden. Das Geld ist längst da, man hatte jetzt drei Jahre Vorbereitungszeit. Die lauten Stimmen aus Baden-Württemberg und Bayern, die möglichst viele Freiheitseinschränkungen im Gesetz haben wollten, aber selbst nicht tun, was sie tun können, empfinde ich als befremdlich.
Frage: Zufall, dass Sie sich auch in Energiefragen mit den Südländern reiben?
Dürr: Das ist keine Frage der Geografie. Ich merke nur, dass in Bayern und Baden-Württemberg zwei Ministerpräsidenten amtieren, die gern laut sind, aber selbst nicht liefern.