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Christian Dürr
Pressemitteilung

DÜRR-Gastbeitrag: Wie konnte die Einkommensteuer so unfair und kompliziert werden?

Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr schrieb für die „Wirtschaftswoche“ den folgenden Gastbeitrag:

Heute ist es 100 Jahre her, dass erstmals in Deutschland auf gesamtstaatlicher Ebene eine Einkommensteuer eingeführt wurde. Am 14. April 1920 ist das Reichseinkommensteuergesetz in Kraft getreten, das unser Steuersystem maßgeblich geprägt hat. Heute ist unverkennbar, dass unser Steuerrecht über die Jahre immer bürokratischer und ungerechter geworden ist.

Aber zurück zu den Anfängen: Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es kurzzeitig eine Einkommensteuer in Ostpreußen, die auf den Reformer Freiherr vom Stein zurückgeht. Im Jahr 1872 schlug der liberale Reichstagsabgeordnete Eugen Richter eine einheitliche Einkommensteuer für das neu gegründete Kaiserreich vor. Die erste progressive Einkommensteuer Deutschlands wurde ebenfalls von einem Liberalen eingeführt: Unter dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel reichten die Steuersätze ab 1891 von einem Eingangssteuersatz von 0,6 Prozent bis zu einem Spitzensteuersatz von 4 Prozent – zuzüglich kommunaler Zuschläge.

Im Jahr 1919/20 schließlich entwickelte der damalige Finanzminister Matthias Erzberger in seiner gerade einmal neunmonatigen Amtszeit mit der Einführung der Reichseinkommensteuer und -körperschaftsteuer die umfassendste Reform der deutschen Finanzgeschichte. Erstmalig gab es in Deutschland ein einheitliches Steuerrecht. Die Erzbergersche Finanzreform unterschied zwischen fünf Einkunftsarten: Einnahmen aus Grundbesitz, Gewerbebetrieb, Kapitalvermögen, Arbeit und Sonstigem. Ein Werbungskostenabzug war ebenso vorgesehen wie der Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen und Spenden an gemeinnützige Vereine. Der Steuersatz begann oberhalb eines Freibetrags bei zehn Prozent und stieg auf bis zu 60 Prozent ab einem Einkommen von 500.000 Mark. Damals begann der Spitzensteuersatz übrigens beim rund 250-fachen des Durchschnittsgehalts – heute schon beim 1,5-fachen.

Führt man sich die schwerfälligen steuerpolitischen Debatten vor Augen, die wir heute im Bundestag führen, stellt sich die Frage, wie vor 100 Jahren eine so bahnbrechende Reform in kürzester Zeit möglich war. Ein Grund war sicher, dass das überschuldete Reich dringend Geld benötigte und die Finanzreform hohe Einnahmen versprach. Aber der zentrale Unterschied zu heute lag vielleicht in Folgendem: Nach dem Zusammenbruch der Monarchie und der Gründung der Republik befand man sich in einer historischen Ausnahme- und Aufbruchsituation. Vor den ersten Reichstagswahlen war die verfassungsgebende Nationalversammlung als gesetzgebendes Organ tätig. Die „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und Liberalen konnte mit breiter Mehrheit regieren, ohne Rücksicht auf den Reichsrat, den Vorgänger des Bundesrats, nehmen zu müssen. So war es möglich, eine Steuerreform zu beschließen, die nicht durch unterschiedliche Mehrheiten auf föderaler Ebene blockiert werden konnte.

Hundert Jahre später zeigt sich, dass die Einkommensteuer unfair und kompliziert geworden ist. Doch selbst wenn es nach der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit für eine umfassende Reform gäbe, wäre es kaum möglich, sie umzusetzen. Warum? Weil Bund und Länder sich das Aufkommen der zentralen Steuern – der sogenannten Gemeinschaftssteuern – teilen. Dazu zählen neben der Einkommensteuer auch die Mehrwert- und Körperschaftsteuer. Eine Reform kann nur von Bundestag und Bundesrat gemeinsam beschlossen werden, woran sie angesichts der Vielzahl an Koalitionen in den Ländern scheitern würde. Nicht zuletzt deshalb werden steuerpolitische Wahlversprechen von vielen Menschen heute kaum noch ernstgenommen.

Was muss also getan werden, um eine Steuerreform, die diesen Namen auch verdient, umzusetzen? Zunächst müssten die steuerpolitischen Zuständigkeiten in der Finanzverfassung des Grundgesetzes neu geregelt werden: So könnten die Erträge der Einkommen- und Körperschaftsteuer allein dem Bund zustehen, während das recht hohe Aufkommen der Mehrwertsteuer und kleinerer Abgaben an die Länder fließen würde. Wenn diese Entflechtung gelingen würde, wäre der Weg für eine echte Reform frei.

Vielleicht ist der 100. Jahrestag der Einkommensteuer aber auch aus einem anderen Grund eine gute Gelegenheit für eine Debatte über unser Steuersystem: Wir erleben mit der Corona-Pandemie eine Krise, wie es sie zuletzt vor hundert Jahren mit der Spanischen Grippe gab. Die Herausforderungen sind ungewöhnlich – die Lösungswege müssen es häufig auch sein. Unzählige Betriebe kämpfen in diesen Wochen um ihre wirtschaftliche Existenz. Darum haben wir Freien Demokraten die Einführung einer negativen Gewinnsteuer vorgeschlagen: Statt eine Steuervorauszahlung von den Konten der Unternehmer abzubuchen, sollten die Finanzämter eine negative Einkommen- bzw. Körperschaftssteuer als Soforthilfe auszahlen. Um solche Maßnahmen in einer Krise schnell und rechtssicher umsetzen zu können, muss der Bundestag auch in der Steuerpolitik jederzeit agieren können. Deshalb sollten wir die Gemeinschaftssteuern abschaffen – als Beitrag zur Handlungsfähigkeit unseres Staates, auch in der Krise.

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