Dr. Marco Buschmann
Pressemitteilung

BUSCHMANN-Gastbeitrag: Der Staat vergeudet unsere Zeit

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für die „Welt“ (Donnerstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Es ist Zeit für eine neue Revolution, und bei dieser Revolution wird es um Zeit gehen. Sie ist das wertvollste Gut, das wir besitzen. Doch der Staat verschwendet sie systematisch, weil er an der Technik von gestern klebt. Beispiel Steuern: Millionen Deutsche haben die Zeit zwischen den Jahren für ihre Steuererklärung genutzt. Belege heraussuchen, Summen bilden und mit dem Kugelschreiber auf Papierformulare übertragen. Was für eine Verschwendung von Lebenszeit! Eigentlich ginge das viel einfacher. Die meisten Menschen leben von abhängiger Beschäftigung oder Renten. Kapitaleinkünfte sind insbesondere in der gegenwärtigen Niedrigzinsphase steuerlich kaum von Belang, weil sie die Freibetragsgrenzen regelmäßig nicht überschreiten. Warum schaffen wir die verbindliche Steuererklärung für Menschen, die im Wesentlichen von abhängiger Beschäftigung und Renten leben, also nicht einfach ab?

Dieser Schritt ist gar nicht so schwer zu gehen. Dazu muss man sich nur aus der Logik der Basistechnologie Papier verabschieden und digital denken: Der Staat besitzt bereits die wesentlichen Informationen, die für die Ermittlung der Steuerschuld nötig sind, oder er könnte sie ohne Weiteres kennen: Renten sind gesetzlich festgesetzt. Sämtliche Lohnbuchhaltungsdaten muss der Arbeitgeber ohnehin digital vorhalten und könnte sie den Finanzämtern seiner Arbeitnehmer ohne großen Aufwand digital zur Verfügung stellen. Wer trotzdem meint, er fahre mit den zerknüllten Quittungen aus dem Schuhkarton besser, kann gerne weiter eine Steuererklärung abgeben – aber freiwillig.

Beispiel Behördengänge: Wer sich als Arbeitnehmer an das letzte Mal erinnert, dass er einen Ausweis verlängern, einen Reisepass beantragen oder eine Ummeldung vornehmen musste, weiß es noch genau. Ohne einen halben Tag Urlaub geht es nicht. Was für eine Verschwendung von Lebenszeit! Das alles ginge wesentlich einfacher. Die Innovationskraft des Marktes macht es vor: Wer früher ein Bankkonto eröffnen wollte, musste persönlich bei der Bank erscheinen, um seine Identität nachzuweisen. Später bot die Deutsche Post das sogenannte Postldent-Verfahren in ihren Filialen an. Mittlerweile gibt es diese Dienstleistung – also die Feststellung der Identität desjenigen, der das Konto eröffnet –von mehreren Anbietern per Videokonferenz im Internet. Das lässt sich rasch in der Mittagspause oder im Feierabend erledigen. Der Urlaub bleibt unangetastet. Warum bietet der Staat nicht ein solches Angebot an, wenn es um Ausweis, Reisepass oder Ummeldung geht? In Wahrheit ist das keine große Sache. Warum sollte ich dem Sachbearbeiter auf dem Einwohnermeldeamt meinen Mietvertrag nicht auch per Skype-Konferenz vorlegen dürfen? Der erstellt dann für seine elektronischen (!) Akten einfach ein paar Screenshots – also digitale Kopien dessen, was der Bildschirm gerade anzeigt.

Beispiel Ausweispapiere: Warum gibt es eigentlich überhaupt noch Ausweispapiere? Fluggesellschaften bieten ihren Kunden digitale Tickets, die man bequem in seinem Smartphone über ein „Wallet“ oder ähnliche Produkte verwalten kann. Ein „Identity Wallet“, also eine Software zur Verwaltung digitaler Identitätsnachweise, könnte sich zu einem Cockpit für das Management der eigenen personenbezogenen Daten entwickeln. Jeder Mensch könnte damit bequem regeln, wer wann wofür Zugang zu den eigenen Daten erhält. Niemand müsste mehr Formulare ausfüllen oder Ausweise kopieren, um ein Auto zu mieten oder einen Mobilfunkvertrag zu schließen. Der Bürger gewährt künftig einem Dritten mittels seines Identity Wallet Zugang zu den erforderlichen personenbezogenen Daten, die etwa auf einer Datenkarte manipulationssicher gespeichert sind. Das Flugticket im Wallet von heute spart Zeit, weil man nicht mehr in der Schlange für den Check-in stehen muss. Das gilt erst recht für das Identity Wallet der Zukunft.

Zudem wären ganz neue Services für uns Bürger denkbar. Das elektronische Flugticket im Wallet von heute ermöglicht Hinweise auf Gate-Wechsel oder Verspätungen. Das Identity Wallet von morgen könnte es ermöglichen, dass das lästige Quittungssammeln für die Steuererklärung sogar endgültig für all diejenigen beendet wird, die sich davon Vorteile erhoffen: Kaufe ich ein Fachbuch, so könnte die Quittung direkt digital an das zuständige Finanzamt als Nachweis von Werbungs- oder Betriebskosten überstellt werden. Mehr als ein Scan an der Ladentheke wäre dafür nicht nötig. Das Gleiche gilt für die Erinnerung zur Auffrischung einer Impfung beim Arzt oder wenn Plätze in einer Schule oder Kita frei werden.

Menschen werden in nicht allzu ferner Zukunft ungläubig darüber staunen, welche seltsamen Erklärungen herangezogen wurden, um uns diese Innovationen vorzuenthalten und den verschwenderischen Umgang des Staates mit den Ressourcen seiner Bürger zu begründen. Der US-Ökonom William J. Baumol erklärte in den 1960er-Jahren, warum staatliche Stellen immer unproduktiver arbeiten würden als die Privatwirtschaft: Staatliche Tätigkeit bestehe stärker aus Dienstleistungen als privatwirtschaftliche Tätigkeit. Dienstleistungen seien aber Produktivitätssteigerungen durch technischen Fortschritt weniger zugänglich als Produktion. Das war eine Erklärung dafür, dass sich die Amtsstuben der Verwaltung von der technischen Entwicklung in den Produktionshallen der Wirtschaft abkoppelten. Die Erklärung erschien plausibel – in den 1960er-Jahren.

Doch seit den 1960er-Jahren hat sich vieles verändert. Der Anteil der Dienstleistungen an privatwirtschaftlicher Tätigkeit in den entwickelten Volkswirtschaften hat enorm zugenommen. Die Digitalisierung hat dem Dienstleistungssektor enorme Produktivitätsfortschritte zugeführt. Heute wird sogar regelmäßig die Befürchtung geäußert, dass künstliche Intelligenz auf Dauer immer mehr Menschen selbst im Bereich der höheren Dienstleistungen wie etwa Rechtsberatung oder medizinischer Diagnose ersetzen könnte. Für weniger technischen Fortschritt in den Amtsstuben als bei modernen Unternehmen fehlt mittlerweile also jede Begründung.

Vor etwas mehr als 100 Jahren hat Philipp Scheidemann die Republik mit den Worten ausgerufen, dass „das alte Morsche“ zusammengebrochen sei. Gemeint war damit die Monarchie. Heute können wir es uns kaum noch vorstellen, dass der Zufall der Geburt über die politische Spitze des Staates entscheidet. Es kann gut sein, dass die Menschen in 100 Jahren in ähnlicher Weise auf unsere Zeit zurückblicken. Sie werden sich kopfschüttelnd fragen, wie wir es der Politik von heute nur jemals erlauben konnten, mit dem wertvollsten Gut, das wir besitzen, in verschwenderischer Art und Weise umzugehen: der Zeit.

Stichwort Sicherheit: Der Schutz unserer Privatsphäre ist eine zentrale Aufgabe bei der Digitalisierung unseres Lebens. Die jüngste Daten-Leak-Affäre zeigt, dass Deutschlands Behörden auf den Schutz vor solchen Bedrohungen überhaupt nicht angemessen vorbereitet sind. Mehr Schutz werden hier auch keine Gesetze auf Papier, sondern wird nur digitale Technik bieten: mittels Kryptographie könnte jeder Bürger seine Daten so verschlüsseln, dass sie für Datendiebe unleserlich und damit wertlos wären. Dass diese Technik immer wieder unter dem Damoklesschwert eines gesetzlichen Verbotes steht, ist daher ein Anachronismus. Wenn wir die großen Chancen der Digitalisierung mit der Sicherheit unserer Daten verbinden wollen, dann brauchen wir ein Grundrecht auf Verschlüsselung.

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