BUSCHMANN-Gastbeitrag: Keine Angst vor Künstlicher Intelligenz
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für den „Tagesspiegel“ (Samstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Freiheit ist ein faszinierendes Thema. Seit Jahrhunderten diskutieren Intellektuelle, ob sie mit den Gesetzen der Naturwissenschaft vereinbar sei. Daran knüpft nun einer der erfolgreichsten Autoren unserer Zeit an. In der britischen Tageszeitung „The Guardian“ offenbarte Yuval Noah Harari vor Kurzem einen tiefen Gewissenskonflikt: Zwar müsse man die liberale Demokratie verteidigen. Doch als Wissenschaftler sei er gezwungen, auszusprechen, dass ihre Grundannahme falsch sei. Die menschliche Freiheit sei bloß ein Mythos: „The myth of freedom“.
Hararis Behauptung speist sich aus seiner Vorstellung davon, wie menschliches Denken funktioniert und durch die Digitalisierung relativiert werden könnte. Er warnt vor Manipulationen der politischen Willensbildung. Algorithmen nutzten Schwachpunkte des Menschen. Sein Verhalten sei eben nicht frei. Es folge Algorithmen, wie Harari bereits in seinem Bestseller „Homo Deus“ argumentierte. Der Mensch sei nur eine Art programmierter Bio-Computer. Offenkundig stand der Skandal um Cambridge Analytica bei diesen Überlegungen Pate. Das Unternehmen war mit der Behauptung ins Gerede gekommen, dass es massenhaft Wähler manipuliert und damit zum Wahlerfolg Donald Trumps beigetragen habe.
Aber auch ein brillanter Historiker kann grandios irren, wenn er sich auf das Feld der politischen Philosophie begibt. Denn Harari fällt mit seiner Argumentation hinter den Stand zurück, den das politische Denken bereits mit Immanuel Kant erreicht hatte. Harari nutzt nämlich eine Argumentation, der der Königsberger Philosoph entschieden entgegentrat. Wie hochaktuell dessen Überlegungen sind, zeigt der Vergleich seiner Zeit mit der Debatte, die Harari heute anstößt.
1687 erschien Isaac Newtons bahnbrechendes Werk „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“. Es revolutionierte das naturwissenschaftliche Denken und verschaffte dem empirischen Materialismus entscheidenden Rückenwind. Nicht Denken sei der Schlüssel zur Erkenntnis, sondern die Sammlung von Daten durch Beobachtung. Der Druck der Daten präge früher oder später von allein die Erkenntnis in den menschlichen Geist wie in das Material einer Wachstafel.
Julien Offray de La Mettrie meinte daher, in der Mechanik den Schlüssel für das Wesen des Menschen gefunden zu haben. In seinem Buch „Die Mensch-Maschine“ behauptete er, der Mensch sei „nichts anderes als eine ungeheure und mit höchster Kunsttechnik und Geschicklichkeit gebaute Uhr“. Niemand Geringeres als Friedrich der Große erkannte die Konsequenz dieser Idee: Sie führe dazu, dass wir Menschen „nur Marionetten, die von der Hand einer blinden Kraft bewegt werden“, seien. Also: das Gegenteil von frei.
Ein Beweis für diese These wäre eine Maschine, die über Fähigkeiten verfügte, die man bislang nur dem Menschen zugeschrieben hatte. Diesen lieferte scheinbar der sogenannte „Schachtürke“. Es handelte sich um einen Apparat, der vor den Augen des Publikums auf höchstem Niveau Schach spielte. Später stellte sich die Sache allerdings als großer Schwindel heraus: In der Maschine versteckte sich ein Mensch.
Was hat das nun mit Harari zu tun? Nun, seine Argumentation läuft absolut parallel dazu. So, wie de la Mettrie den Menschen wie eine mechanische Maschine beschreibt, beschreibt Harari ihn wie einen Computer. Während die Maschine genau das tut, was ihr der Konstrukteur vorgegeben hat, tut der Computer das, was ihm ein Programmierer vorgibt. Zwar spricht Harari von Algorithmen. Aber das ist nichts anderes als die mathematische Beschreibung eines Computerprogramms. Denn ein Algorithmus ist eine vorgeschriebene Abfolge von Arbeitsschritten, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Er lässt keine Freiheit zu.
Cambridge Analytica ist der Schachtürke unserer Zeit. Das Gerede von der Manipulierbarkeit der Wähler stellte sich letztlich nur als PR-Aktion heraus. Keine der Erfolgsmeldungen bestätigte sich. Mittlerweile ist das Unternehmen insolvent.
Da Harari wie de la Mettrie argumentiert, lässt sich Kants Entgegnung auf die „Mensch-Maschine“ auch ohne Weiteres für eine Antwort auf Harari nutzen. In seinem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ forderte der Philosoph alle Regierungen auf, „den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln“. Würde komme dem Menschen zu, weil er - anders als eine Maschine - frei ist. Diese Freiheit sei keine Freiheit von Naturgesetzen. Der Mensch könne sich Freiheit durch seinen Verstand erarbeiten. Denn er kann die Bedingungen, unter denen er lebt, erkennen, sich dazu einen eigenen Standpunkt bilden und durch diesen motiviert im Rahmen des Möglichen mittels eigenen Verhaltens korrigierend eingreifen.
Dazu ein banales Beispiel: Ich stelle fest, dass ich immer dann Heißhunger auf Schokolade bekomme, wenn ich Light-Getränke konsumiere. Habe ich diesen Zusammenhang erkannt, kann ich mir dazu einen Standpunkt bilden. Zum Beispiel: Wenn ich zu viel Schokolade esse, nehme ich zu. Das will ich aber nicht. Daher kann ich verschiedene Konsequenzen ziehen: Ich trinke fortan keine Light-Getränke mehr, sondern nur noch Wasser. Oder ich kaufe einfach keine Schokolade mehr. Oder ich lege zusätzliche Jogging-Einheiten ein, um die Kalorien aus der Schokolade zu verbrennen, damit ich nicht dick werde.
Eine solche Freiheit können mechanische Apparate niemals besitzen, weil sie weder eigenständig neue Erkenntnisse über die Welt noch einen eigenen Standpunkt entwickeln können. Wie sollte auch eine Ansammlung von Zahnrädern jemals dazu in der Lage sein? Nach dem absehbaren Stand der Technik gilt das aber genauso für die Algorithmen der sogenannten künstlichen Intelligenz.
Schon Kant arbeitete heraus, dass Erkenntnis keinesfalls durch bloßes Sammeln von Daten erfolgt. Erst recht prägt sie sich nicht passiv in den menschlichen Geist wie in eine Wachstafel ein. Die Unmenge an Daten, die die „Mannigfaltigkeit“ der Welt produziert, würde uns schlicht überfordern. Wir wären geblendet wie ein Mensch, der in die Sonne schaut. Vor der Beobachtung ist zu klären, was eigentlich beobachtet werden solle. Heute würden wir sagen, dass vor der empirischen Überprüfung die Bildung einer Arbeitshypothese oder eines vorläufigen Modells steht. Vor dem Experiment kommt die gedanklich geschaffene Experimentalanordnung. Das ist ein schöpferischer Akt spontaner Selbsttätigkeit des Verstandes. Wenn dieser dann mit Empirie verknüpft wird, kommt es zu Erkenntnis. Denn: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“
Künstliche Intelligenz schafft das nicht. Denn ihr gelingt der dafür notwendige schöpferische Akt spontaner Selbsttätigkeit nicht. Das gilt unstreitig für die erste Generation, die Intelligenz nur dem äußeren Anschein nach imitiert. Am bekanntesten sind sogenannte „Chat-Bots“. Sie tun so, als würden sie eine Unterhaltung führen können. In Wahrheit folgen sie nur Regeln, die vorher fest programmiert wurden. Alan Turing formulierte für solche Systeme den nach ihm benannten Turing-Test. Ein Computer sei gleich intelligent wie ein Mensch, wenn ein Mensch nicht mehr unterscheiden könne, ob er mit einem Computer oder einem Menschen chattet. Turing war überzeugt, dass bis zum Jahr 2000 Systeme existieren, die eine erfolgreiche Testquote von mindestens 30 Prozent aufweisen. Bis heute ist das noch keinem System gelungen. Fest programmierten Computersystemen fehlt ebendas, was Kant „Einbildungskraft“ und „Spontaneität“ nennt, die im menschlichen Umgang zu so etwas wie „Empathie“ oder „Einfühlungsvermögen“ führen kann. Wir erkennen in unserem Gegenüber etwas, wozu wir spontan einen Standpunkt bilden und uns entsprechend verhalten können.
Das gelingt auch Systemen des sogenannten „machine learning“ nicht. Dabei handelt es sich um künstliche Expertensysteme, die nicht „fest verdrahtet“ programmiert sind, sondern aufgrund neuer Informationen „lernen“. Sie arbeiten nämlich mit statistischen Zusammenhängen. Auf der Grundlage großer Datenmengen ermitteln sie Wahrscheinlichkeiten nach dem Schema: Wenn A der Fall ist, ist sehr oft auch B der Fall. Das Modell dahinter lautet, dass Korrelation (immer wenn A der Fall ist, passiert häufig B) einen starken Hinweis auf Kausalität (immer wenn A der Fall ist, geschieht auch B) gibt. Damit sind große Erfolge etwa in der medizinischen Diagnostik möglich, die zu großen Teilen auf statistischen Befunden beruhen. Doch das Modell „Kausalität aufgrund von Korrelation unterstellen“ ist auch diesen Systemen durch ihre Schöpfer vorgegeben, so, wie der Konstrukteur einer Maschine bestimmte Zahnräder verpasst hat.
Die Fähigkeit zu einem schöpferischen Akt spontaner Selbsttätigkeit ist notwendige Bedingung für das, was man seit der Zeit der Aufklärung Freiheit durch Gebrauch des eigenen Verstandes nennt. Sie ist die Freiheit, auf der die liberale Demokratie beruht und die dem Menschen seine Würde verleiht. Wer menschliches Verhalten als eine Summe aus Algorithmen beschreibt, bleibt die Antwort schuldig, welcher Algorithmus denn diese schöpferische Selbsttätigkeit hervorbringen solle. Bis heute ist es niemandem gelungen, sie zu formulieren. Freiheit bleibt das „je ne sais quoi“, das uns auf absehbare Zeit von Maschinen und Computern unterscheiden wird.
Das ist eine gute Nachricht für die liberale Demokratie und die Digitalisierung. Denn die Existenz „künstlicher Expertensysteme“ ist keine Widerlegung menschlicher Freiheit. Die liberale Demokratie muss die Digitalisierung also nicht fürchten. Sie kann sich ihrer Fortschritte angstfrei bedienen. Letztlich ist das auch für Harari gut. Denn das dürfte seinen Gewissenskonflikt, an dem er uns öffentlich teilhaben ließ, auflösen. Wie gut also, dass Harari irrt!