Dr. Marco Buschmann
Pressemitteilung

BUSCHMANN-Gastbeitrag: Für einen Sozialstaat der digitalen Moderne

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für den „Focus“ (aktuelle Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Der Sozialstaat heutiger Prägung ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Das war eine Zeit großer Veränderungen: Nicht mehr die Bewirtschaftung des Bodens war die wichtigste Lebensgrundlage, sondern mehr und mehr industrielle Produktion. Die wichtigsten Antriebstechnologien waren nicht mehr menschlich oder tierisch, sondern maschinell. Die Bevölkerung wuchs sprunghaft – und dadurch auch das Angebot an Arbeitskräften.

In Regionen ohne Industrialisierung fiel gleichzeitig die Nachfrage aufgrund der hohen Produktivitätssteigerungen durch neue Technologien. Das führte dort mitunter zum Verfall der Löhne und zum Wegfall der ökonomischen Lebensgrundlage für zahlreiche Menschen. Die Folge waren entweder bürgerkriegsähnliche Zustände oder große Wanderungsbewegungen ins Ausland sowie in die aufstrebenden Industrieregionen wie etwa das Ruhrgebiet.

Eine neue Zeit wie diese konnte sich nicht auf alte Formen der sozialen Sicherung verlassen. Jahrhundertealte Wertesysteme wie Brauch, Sitte und Anstand, die zu einer Absicherung in stabilen menschlichen Beziehungen wie Familie, Sippe, Nachbarschaft oder Gutsgemeinschaft führten, funktionierten nicht mehr. Es wurden staatliche Versicherungen und Leistungssysteme eingeführt, um schnell eine Antwort auf die ‚soziale Frage‘ zu finden.

Die Sozialpolitik in den Staaten des Westens baute dieses System staatlicher Leistungen seit den 1970er- Jahren massiv aus. Eine Frage spielte dabei eher eine untergeordnete Rolle: ob es angesichts dieser Leistungen wirklich attraktiv bleibt, regulärer Erwerbsarbeit nachzugehen. Denn diese Zeit zeichnete sich durch steigende Arbeitslosenquoten aus. Das heißt: Ähnlich wie im 19. Jahrhundert, gab es potenziell ein Überangebot an Arbeitskraft. Daher erfreute sich die politische Rhetorik der ‚sozialen Frage‘ des 19. Jahrhunderts auch in dieser Phase des 20. Jahrhunderts so großer Beliebtheit.

Die Sozialpolitik nahm es dabei nicht nur hin, dass diese Systeme Menschen vom Arbeitsmarkt fernhielten; Programme zur ‚Frühverrentung‘ zielten bisweilen sogar genau darauf ab, die Zahl der Erwerbstätigen zu reduzieren. So sollte die Arbeitslosenstatistik entlastet werden. Zugleich wurde das System der Anreize für Arbeit immer komplizierter. Einerseits gab es den Steuertarif, andererseits die Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge und wiederum eine Vielzahl sozialer Transferleistungen, die Bund, Länder und Kommunen gewähren und die nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Wechselbeziehungen sind so komplex, dass sich selbst Fachleute damit schwertun, die daraus resultierenden Anreizwirkungen für die Aufnahme von Arbeit klar zu benennen. Bedeutende Veränderungen prägen auch die Gegenwart. Eine ist der demografische Wandel. Dadurch scheiden mehr Arbeitskräfte altersbedingt aus dem Arbeitsleben aus als nachkommen. Auch deshalb haben wir in vielen Regionen Deutschlands heute schon Vollbeschäftigung. Immer mehr Branchen melden sogar Fachkräftemangel. Daran wird auch die andere große Veränderung nichts ändern: die Digitalisierung. Denn sie wird netto zu zusätzlichen Arbeitsplätzen führen – sprich zu einer höheren Nachfrage nach Arbeitskraft. Zwar fallen bestimmte Arbeitsplätze weg. Die Zahl der neu entstehenden übersteigt sie aber. Das belegt eine Reihe wissenschaftlicher Studien. Heute und in Zukunft gibt es also kein Überangebot, sondern eher einen Mangel an Arbeitskraft.

Daher passt es überhaupt nicht in die Zeit, die Rhetorik der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert wiederzubeleben. Einige Kassandrarufer meinen etwa, vor Massenverelendung durch Digitalisierung warnen zu müssen. Sie würde die Menschen angeblich arbeitslos machen. Neue Weberaufstände würden drohen, wenn wir nicht etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen einführten. Das ist Geisterbahnpolitik. Denn sie erzeugt zwar Ängste, hat aber mit der wirklichen Welt nichts zu tun.

Ein moderner Sozialstaat muss soziale Sicherung bieten. Mehr als in der Vergangenheit muss er aber darauf achten, dass sich Arbeit lohnt. Denn es wäre töricht, in einer Zeit des Fachkräftemangels Menschen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Hier ist noch viel zu tun.

Eine neue Studie des Ifo-Instituts etwa hat gezeigt, dass das komplexe Wechselspiel aus Besteuerung, Sozialleistungen und Anrechnungsregelungen mitunter dazu führt, dass Menschen, die eine Arbeit aufnehmen oder mehr arbeiten als zuvor, wirtschaftlich nicht nur nicht davon profitieren. Sondern schlimmer noch: Sie haben netto weniger in der Tasche, obwohl sie mehr arbeiten. Alleinerziehende mit zwei Kindern befänden sich, so die Münchner Ökonomen, in einer solchen „Todeszone“, wenn sie Einkommen zwischen 1500 und 2300 Euro erzielten.

Das ist so ungerecht wie dumm. Ungerecht, weil gerade solche Menschen unseren Respekt verdienen, die durch Arbeit das Leben für sich und ihre Kinder verbessern wollen. Dumm ist es, weil wir heute ihre Arbeitskraft dringend benötigen.

Die richtige Antwort wäre ein liberales Bürgergeld. Es reduziert das komplexe Wechselspiel der zahlreichen Transferleistungen, indem es sie weitgehend zusammenfasst. Zudem benötigen wir Anrechnungsregelungen, die sicherstellen, dass Arbeit immer belohnt wird. Für das Steuerrecht muss gelten: Wer sich mehr brutto erarbeitet, muss auch mehr netto in der Tasche haben. Das Gleiche muss auch im Recht der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Transfereinkommen gelten: Wer mehr brutto verdient, muss auch netto mehr zum Leben haben.

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