LINDNER-Interview: Es ist höchste Zeit für eine Wende
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner gab der „Frankfurter Allgemeinen Woche“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Philip Eppelsheim:
Frage: Herr Lindner, gibt es eine politische Lehre, die man aus dem Mord an Susanna F. ziehen muss?
Lindner: Ich bin gegen jede Form von Generalisierung, und ich bin auch dagegen, diese schreckliche Mordtat politisch zu instrumentalisieren. Unabhängig davon ist doch klar, dass wir in Deutschland andere gesetzliche Regeln für die Einwanderung brauchen und dass wir ein besseres Management von Einwanderung benötigen. Das gilt insbesondere, wenn es um die Frage von Altersfeststellung, um den Umgang mit Gefährdern oder um die Abschiebung von sich illegal bei uns Aufhaltenden geht. In diesen Bereichen sind wir noch nicht so weit, dass man schon Entwarnung geben könnte.
Frage: Die Punkte, die Sie nennen, sind nicht neu. Darüber reden wir seit geraumer Zeit. Hat man versäumt, die Dinge anzugehen?
Lindner: Es gibt ganz offensichtlich Versäumnisse. Darüber sprechen wir dieser Tage ja auch im Zusammenhang mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Vor allen Dingen scheint mir die Digitalisierung und Modernisierung der Verwaltung nicht mit der hinreichenden politischen Priorität ausgestattet zu sein. Ich wünsche mir andere gesetzliche Grundlagen und Verfahren. Bei Flüchtlingen sollte gar nicht erst das langwierige Asylverfahren eingeleitet werden. Nach einer schnellen Identitätsfeststellung und Sicherheitsüberprüfung sollte es in einem Gruppenverfahren eine rasche Entscheidung geben, die zu einem Aufenthaltsstatus und zu einer Arbeitserlaubnis führt. Bei allen anderen muss ganz rasch die Rückführung in ihre Herkunftsländer eingeleitet werden.
Frage: Die AfD behauptet, Susanna F. sei ein Opfer von Merkels Willkommenspolitik. Sehen Sie Frau Merkel in der Verantwortung?
Lindner: Frau Merkel hat ja selbst die Verantwortung für die sogenannte Grenzöffnung im Sommer 2015 übernommen. Ich füge hinzu: Vor allen Dingen hat sie die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass über den humanitär zugespitzten Einzelfall eines Wochenendes hinaus daraus ein Dauerzustand geworden ist. Aber Mörder gibt es unabhängig vom Flüchtlingsstatus, und deshalb bin ich gegen die Pauschalisierung. Damit wir wieder einen sozialen Frieden in unserem Land bekommen und das Vertrauen in den Rechtsstaat wächst, ist jetzt aber höchste Zeit für eine Wende. Und diese Wende darf eben nicht in Rassismus, in Diskriminierung, Pauschalverurteilung, Kreuz an der Wand oder Abschottung bestehen. Die Wende muss bestehen aus einem kontrollierten System, das jedes Individuum betrachtet nach Bedürftigkeit oder nach der Arbeitsmarktnähe. Wenn beides nicht vorliegt, dann kann es keinen Grund geben, dass sich jemand in Deutschland aufhält.
Frage: Ist denn die Chance auf eine solche Wende überhaupt vorhanden? Gerade liegen Frau Merkel und Herr Seehofer wieder im Clinch miteinander.
Lindner: Das ist ja gerade der Grund, warum sie im Clinch miteinander liegen. Frau Merkel hält an der Grundlage ihrer Flüchtlingspolitik offenbar fest. Sie bezieht sich jetzt auf Europa. Dieses Argument war aber bei der unabgestimmten Entscheidung des Sommers 2015 offensichtlich nicht in ihrem Blickfeld. Ich wünsche Herrn Seehofer Fortune. Wenn er sich mit seiner Position der Zurückweisung durchsetzt, wäre das eine symbolhafte Wende. Mir fehlt allerdings gegenwärtig die Phantasie, dass Frau Merkel dazu bereit und fähig ist.
Frage: Frau Merkel muss also weg?
Lindner: Nein, ich halte dieses ebenfalls generalisierte Merkel-Bashing für falsch. Ich wünsche mir eine andere Politik, aber ich mache das nicht an einem einzelnen Kopf fest. Dass das oft geschieht, dass gegen die Regierungschefin in dieser Weise Front gemacht wird, dass gegen einzelne Bevölkerungsgruppen und Menschen Stimmung gemacht wird, ist ein Zeichen der Verrohung. Alles dient nur dem Ziel, daraus kurzfristiges politisches Protestkapital zu schlagen. Wir wollen genau das Gegenteil. Wir möchten, dass unser Land weiter weltoffen und tolerant und vielfältig ist. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass es nicht zu einer Romantisierung kommt mit religiösen Symbolen an Behördenwänden, sondern zu einem funktionierenden Einwanderungssystem, und dazu sind seit längerem schon Schritte nötig.
Frage: Ihnen wurde Rassismus vorgeworfen, nachdem Sie in einer Rede eine Bäcker-Anekdote erzählt hatten. Hat Sie die Aufregung verwundert?
Lindner: Ja, absolut. Als ich meine Rede gehalten habe, waren ja hundert kritische Vertreter des Qualitätsjournalismus im Raum. Von denen hat keiner Anstoß genommen. Das kam erst einen Tag später mit einem verdrehten und interpretierten Ausschnitt meiner Rede. Da haben dann diejenigen, die nicht im Raum waren und den Gesamtzusammenhang gar nicht kannten, sofort die Empörungsgeschwader abheben lassen. Das zeigt mir eine gewisse Überhitzung und Überreizung der öffentlichen Debatte. Es ist nicht gut, wenn der Vorwurf des Rassismus so inflationär gebraucht wird, dass die wirklichen Gegner unserer Demokratie völlig verharmlost werden.
Frage: Im Fall von Alexander Gauland kann man doch nicht sagen, dass seine Vogelschiss-Äußerung verharmlost wurde.
Lindner: Sie wollen mich doch nicht etwa mit meiner Aussage in einem Atemzug mit Herrn Gauland nennen. Ich habe – und daran halte ich auch fest – darauf hingewiesen, dass Menschen mit einer anderen ethnischen, kulturellen oder religiösen Herkunft im Alltag inzwischen die Erfahrung von Unsicherheit und von schiefen Blicken machen. Ich habe nicht von mir gesprochen, sondern von einem Zuwanderer, der es mir berichtet hat. Und ich ergreife auch nicht Partei für diejenigen, die schief schauen. Sondern ich erkenne eine Realität, auf die ich reagiere, indem ich das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken will. An dieser Position will ich auch festhalten, und zwar im Interesse der Menschen, die zu uns gekommen sind und zukünftig auch noch im größeren Umfang kommen müssen, wenn wir den Fachkräftebedarf in unserem Land beantworten wollen.
Frage: Ich wollte Sie nicht mit Herrn Gauland vergleichen, sondern im Gegenteil fragen, wie wir es schaffen können, die Überhitzung wieder runterzukühlen, um eben die wirklichen Gegner unserer Demokratie zu erkennen und nicht alle gemeinsam in einen Topf zu werfen. Wie schaffen wir eine Versachlichung dieser Diskussion?
Lindner: Das ist die Eine-Million-Euro-Frage. Ich habe darauf keine Patentlösung, sondern nur Ansätze. Ein Ansatz ist, dass das zugrundeliegende Problem, das die Gesellschaft gegenwärtig so hochsensibel macht und die politische Landschaft zu verschieben droht, gelöst wird. Darüber sprachen wir ja die ganze Zeit. Man wird sicherlich darüber hinaus bei der Prioritätensetzung der Politik insgesamt schärfer wieder die Interessen der breiten Mitte unseres Landes in den Blick nehmen müssen. Wir kreisen nach meinem Geschmack zu sehr um die Ränder der Gesellschaft, also um Bedürftige jeder Art und um Superreiche, denen man etwas wegnehmen will. Dabei wird übersehen, dass das die Lebenssituation der breiten Mitte in unserem Land gar nicht anspricht. Die haben aber auch Interessen, die wieder eine Rolle spielen müssen. Das sind wichtige und dringliche Fragen. Und nicht zuletzt ist es auch eine Frage des Mutes, Dinge auch anzusprechen, selbst wenn es manchem Troll auf Facebook nicht gefällt oder es auch die Kreise mancher selbsternannter Tugendwächter stört.
Frage: Würden Sie eigentlich der AfD recht geben, dass die anderen Parteien nach und nach ihre Positionen in der Flüchtlingspolitik übernommen haben?
Lindner: Ich kann nur für meine Partei sprechen. Und diesen Versuch der Vereinnahmung zurückweisen. Der AfD geht es um Abschottung und um Diskriminierung von Minderheiten. Denen geht es um eine geschlossenen identitäre, kollektivistische Gesellschaftsvorstellung. Daher auch die inhaltliche Nähe zu autoritären Führern wie Putin und Orban. Wir wollen hingegen ein weltoffenes Land, das vielfältig und individualistisch ist. Ein Land, das auch unabhängig von der Herkunft Menschen bei uns die Chance einräumt, hier zu leben, ihr Glück zu suchen und deutsche Staatsbürger zu werden. Aber die Voraussetzungen dafür sind eben die Kontrolle des Zugangs zu unserem Land als eine der wichtigen Staatsaufgaben und klare Regeln und Erwartungen an diejenigen, die kommen. Das bezieht sich insbesondere auf unsere Rechtsordnung, auf die Akzeptanz für unsere Umgangsformen und die Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt. Diese Anforderungen sind nicht neu. Die haben wir schon seit den neunziger Jahren formuliert, und die werden in erfolgreichen Einwanderungsländern wie Kanada im Alltag gelebt.
Frage: Bedauern Sie bisweilen, dass Ihre Partei nicht in der Regierung ist, um dort die Ziele zu erreichen, für die die FDP steht?
Lindner: Natürlich strebt man als Politiker mit einer Gestaltungsidee nach der Regierung. Und deshalb bedauere ich natürlich, dass im vergangenen Jahr keine Möglichkeit gegeben war. Aber politische Unterschiede kann man eben nicht mit Geld und schönen Worten überbrücken. Es müssen auch Richtungsentscheidungen getroffen werden. Gerade in der Einwanderungspolitik sieht man ja, dass noch nicht einmal die Union mit sich im Reinen ist. Wir haben noch gar nicht von der SPD gesprochen. Wenn Frau Merkel und Herr Seehofer sich einigen, ist ja nicht gesagt, dass die SPD bei diesen Fragen mitzieht. Ganz zu schweigen von den Grünen, die bei Jamaika mit am Tisch gesessen hätten. Insofern war die Konstellation nicht geeignet, um in der Einwanderungspolitik, genauso übrigens bei Steuern, Energie, Bildung und Europa, die nötigen Trendwenden zu erreichen, die wir unseren Wählern zugesagt hatten.
Frage: Am Ende noch eine Frage zu einem anderen Thema. Sie haben kritisiert, dass ein Interview mit Angela Merkel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Internet hinter einer Bezahlschranke stand. Können Sie damit leben, falls es Ihnen selbst bei diesem Interview genauso ergehen sollte?
Lindner: Damit habe ich überhaupt kein Problem. Ich habe auch mit neuen Bezahlmodellen des Qualitätsjournalismus kein Problem. Ganz im Gegenteil. Aber es ging nicht um die Bezahlschranke der F.A.Z., sondern den Anspruch der Öffentlichkeit, die Aussagen der Regierungschefin zu einer der wesentlichen Fragen dieser Zeit, nämlich der Zukunft Europas, im Parlament zu hören. Es war also keine Kritik am Geschäftsmodell der F.A.Z., sondern am mangelnden Respekt der Kanzlerin vor dem Parlament.