Dr. Marco Buschmann
Pressemitteilung

BUSCHMANN-Gastbeitrag: Gefährliche Schildbürgerstreiche

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für den „Tagesspiegel“ (Dienstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Niklas Luhmann prägte den Begriff der „aufgedrängten Illegalität“. Damit meinte der bedeutende deutsche Soziologe folgendes Phänomen: Eine Vielzahl schlecht gemachter Verordnungen und komplizierter Verwaltungsvorschriften trifft auf eine Realität, in der die eigentlich rechtstreuen Bürger kaum noch eine Chance haben, diesem Wust nachzukommen.

Denn die Befolgung der Vorschriften sei für sie nur noch möglich, wenn sie sich oder anderen schweren Schaden zuzufügen oder schwerwiegende Verluste für sich oder andere in Kauf zu nehmen. Diese Spannung halte niemand dauerhaft aus. Der Normbruch erscheint dann wie eine Art notwendiger Notwehr. Den betreffenden Bürgern wird Illegalität quasi aufgedrängt.

Wird „aufgedrängte Illegalität“ zu einem Massenphänomen, so droht dem Rechtsstaat großer Schaden. Das Recht verliert systematisch an Autorität.

Es droht ein Teufelskreis. Mit unzähligen neuen Vorschriften voller neuem Mikromanagement von oben versuchen die Behörden nachzusteuern. Das führt zu einem beschleunigten Verfall der Autorität des Rechts.

Insbesondere in Krisenzeiten droht eine solche Verordnungsinflation. Die Exekutive will gewiss ernsthaft helfen. Aber sie unterliegt auch einem fatalen Anreizmechanismus. Denn da die Zukunft nur begrenzt steuerbar ist, ergibt sich folgendes Kalkül: Wendet sie sich zum Besseren, so ist es gut, viel getan und verordnet zu haben. Denn dann kann man die gebesserte Zukunft als Erfolg des eigenen Handelns beanspruchen. Wendet sie sich dagegen zum Schlechteren, so wirkt die Vielzahl der Vorschriften wie ein Schutzschild gegen den drohenden Vorwurf der Untätigkeit. Das Credo lautet also immer: Lieber zu viele Vorschriften erlassen als zu wenig.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten um die Gefahr ausufernder Exekutivgesetzgebung. Auch dem Bundesverfassungsgericht ist sie bewusst. Richter fordern daher von jeder Maßnahme, die in die Grundrechte eingreift, dass sie verhältnismäßig ist.

Gerichte prüfen nicht nur, ob es mildere oder gleich geeignete Mittel gibt. Es findet auch eine grundsätzliche Gegenüberstellung der betroffenen Rechtsgüter statt. Sprich: ob der Verlust an Freiheit durch angemessene Gewinne bei entsprechend gewichtigen Rechtsgütern gerechtfertigt ist. „Reine Vermutungen genügen dazu ebenso wenig wie die Feststellung, dass sich weiterhin Neuinfektionen ereignen“, wie der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes im Zusammenhang mit Corona-Maßnahmen jüngst feststellte.

Weiterhin stärkt die Judikative das Parlament gegenüber einer übergriffigen Regierung. Wesentliche Entscheidungen wie Grundrechtseingriffe bleiben dem Parlament vorbehalten – als einzig unmittelbar demokratisch legitimiertem Organ. Dies gilt auch bei „Exekutivgesetzen“, also Verordnungen oder Satzungen.

Das Parlament wiederum wirkt auf schlechte Vorschriften wie eine Art Lackmustest. In die wettbewerbliche Dynamik zwischen regierungstragenden Kräften und Opposition ist nämlich eine natürliche Skepsis eingebaut. Der Nutzen der Vorschrift muss durch die Regierung plausibel beschrieben werden. Die Opposition wiederum wird Nachteile recherchieren, vortragen und Nachbesserung verlangen oder Alternativen vorschlagen. Wenn schon nicht der Sache wegen, dann wenigstens zu Zwecken eigener Profilierung. Aber das Motiv ist für das gute Ergebnis belanglos: Es wird intensiv geprüft, ob eine Maßnahme wirklich etwas bringt und daher nötig ist.

Die betroffenen Bürger nutzen überdies die Abgeordneten als Beschwerdestellen, falls eine geplante Vorschrift besonders viele Nachteile für besonders viele Bürger mitbringt. Die Abgeordneten üben sodann Druck in Ausschüssen und Fraktionen gegen das Vorhaben aus, um sich gegenüber den Bürgern als gute Volksvertreter zu beweisen und weil sie den Ärger in den Wahlkreisen scheuen, der sich aus der Vorschrift ergeben kann.

Doch dieser kluge Mechanismus zur Bändigung einer übermäßigen Verordnungsproduktion ist unter Bedingungen der Corona-Verordnungspolitik der Regierungschefs ausgeschaltet. Es wird hinter verschlossenen Türen entschieden. Die Entscheidungsvorlagen werden in einer Art verwaltungsinternem Umlauf erstellt und kurzfristig verteilt. Für eine kritische Reflexion der oft großen Maßnahmenbündel durch unabhängige Fachleute, kritische Öffentlichkeit oder das Parlament bleibt kaum Zeit.

Das Parlament selbst ist in den Prozess zum Erlass von Verordnungen schon formal nicht eingebunden. Niemand will den handelnden Personen böse Absichten unterstellen. Aber dieses Verfahren sammelt das in der Gesellschaft verstreute Wissen nicht ein, sondern schließt es systematisch aus.

So erklärt sich dann auch die geradezu kuriose Reihe von Schildbürgerstreichen, die die exekutivistische Verordnungspolitik bislang hervorgebracht hat: In Bayern ging die Polizei gegen Bürger vor, die allein auf einer Parkbank saßen, um dort ein Buch zu lesen. Denn sie hätten gegen die Auflage verstoßen, ihre Wohnung „nur bei Vorliegen triftiger Gründe“ zu verlassen. Ebenfalls in Bayern war der Verordnungsgeber der Ansicht, dass das Grillen in der Öffentlichkeit Infektionsgefahren erhöhe, Picknicks aber nicht und das völlig unabhängig davon, ob an beidem viele oder wenige Menschen teilnehmen.

Kurios war auch die 800-Quadratmeter-Regelung für Möbelhäuser. Große Möbelhäuser mit viel Platz und in denen es also leicht ist, Abstand voneinander zu halten, sollten geschlossen bleiben, während kleinere öffnen können sollten. Das ganze gipfelte jüngst in der Idee eines bundesweiten Beherbergungsverbots. Obwohl sich nur wenige Infektionsketten bislang auf die Übertragung in Hotels zurückverfolgen ließen, greift es tief in die Freiheit der Beherbergungsbetriebe und der Reisenden ein. Mitunter wirkt es existenzgefährdend.

Corona ist eine ernsthafte Gefahr und muss entschlossen bekämpft werden. Dabei sind Rechtsstaat und Gewaltenteilung aber kein Hindernis, sondern eine Stärke. Denn setzt sich die Reihe der Schildbürgerstreiche der Regierungschefs weiter fort, dann drängen sie immer mehr rechtstreuen Bürgern Illegalität auf. Die Verbindlichkeit des Rechts schwindet dann generell, aber insbesondere auch im Hinblick auf die sinnvollen und verhältnismäßigen Maßnahmen, die effektiv zur Seuchenabwehr beitragen.

So verlockend es für die Regierungschefs erscheint, sich als rüstige Krisenbekämpfer mit vielen neuen Ideen zu präsentieren und wie sehr das kurzfristig auch demoskopisch gemessene Popularität steigern mag: Mittelfristig gefährdet das die wichtigste Waffe im Kampf gegen Corona – das rechtstreue und verantwortungsbewusste Verhalten der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung. Der Schaden, der dem Rechtsstaat dadurch entsteht, wird möglicherweise auch dann noch bleiben, wenn Corona lange besiegt ist. Deshalb gehört die Corona-Politik wieder in die Hand der Parlamente.

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